Paris 2024
Fußball-Europameisterschaft, Tour de France und Wimbledon — Sportfans kamen zuletzt gehörig auf ihre Kosten. Doch das alles ist nichts im Vergleich zu den Olympischen Spielen. Von Ilja Behnisch
Beginnen wir mit Fehlfarben. Also der Band. Mit Fehlfarben und ihrem Song "Grauschleier", in dem diese eine Zeile vorkommt, die das, was Olympia mit einem im besten Fall macht als Fernseh-Zeuge, so schön umfasst: "Ich kenne das Leben, ich bin im Kino gewesen."
Denn wenn sie wieder vorbei sein werden, diese 33. Olympischen Sommerspiele von Paris, wenn das olympische Feuer am 11. August und im Rahmen der Schluss-Zeremonie gelöscht wird, dann wird man die Welt wieder ein bisschen besser kennen. Und in der Regel: ein bisschen mehr lieben.
Man muss derzeit nicht sonderlich fatalistisch eingestellt sein, um überall nur Elend zu sehen. Rund um den Globus: Klimawandel, Kriege, Katastrophen. Da tut ein bisschen Abwechslung nur gut. Und wenn die Namen der Darsteller noch nicht bekannt sind, das Drehbuch dazu ist bereits geschrieben.
Auch bei diesen Spielen wird es wieder die Exoten geben, die sich sportlich nur marginal vom Fernseh-Zuschauer daheim unterscheiden. Exoten wie Eric Moussambani aus Äquatorialguinea, der in Sydney 2000 nur dank einer Wildcard an den Start der Schwimm-Wettbewerbe ging und sich dabei zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt auf die lange Reise machte, die eine 50-Meter-Bahn im Schwimmbecken auch sein kann. Zumindest für jemanden wie Eric Moussambani, dessen Schwimmstil einer Mischung aus Hilferuf und Jazzdance glich.
Moussambani hatte das Schwimmen überhaupt erst acht Monate vor Beginn der Spiele erlernt. In einem Becken mit einer 15-Meter-Bahn. In Sydney dann sollte er im Vorlauf über 100-Meter-Freistil gegen den Nigrer Karim Bare und den Tadschiken Farkhod Oripov antreten. Die allerdings nach Fehlstart beide disqualifiziert wurden. Weshalb Moussambani sich allein durch das Becken quälte. Unter dem tosenden Jubel der Zuschauer in der Halle. Und mit einer Zeit von 1:52,72 Minuten, was über der Weltrekord-Zeit für die doppelte Distanz lag. Manchmal ist dabei sein eben tatsächlich alles. Als TV-Zuschauer ohnehin.
Exotisch mutet auch so manche Sportart an sich an. Oder wann haben Sie zuletzt einen richtig schönen Wettkampf im Trampolinturnen verfolgt? Dabei lohnt sich das Weiten der Sinne. Nicht nur, weil Trampolinturnen irre ästhetisch und unglaublich athletisch ist, sondern auch, weil es zeigt, dass es immer mehr gibt als das eigene Leben, die eigenen Prioritäten.
Und dann sitzt man vor dem Fernseher und hört dem Kommentator aufmerksam zu, da er ehrfürchtig Namen von Tramponlinturn-Legenden aufsagt und ihre Erfolge. Und wenn es dann erst beginnt, wenn Randolph, Rudolph oder Fliffis gesprungen werden, und schon nach dem fünften Starter die Hybris einsetzt, die einen scheinbar erkennen lässt, dass der Grätschwinkelsprung jetzt aber nicht ganz sauber ausgeführt wurde, dann ist Olympia.
König Fußball hat den Verdrängungswettkampf der Aufmerksamkeits-Ökonomie für sich entschieden. Viele andere Sportarten und mithin viele Athleten finden im öffentlichen Alltag kaum mehr statt. Olympia ist so etwas wie die große Entschuldigung dafür. Bei Olympia schaffen es auch Randsportarten ins Rampenlicht. Durch Olympia werden vorher unbekannte Sportler zu Personen des öffentlichen Interesses. So wie der Gewichtheber Matthias Steiner, der seinen sensationellen Olympiasieg 2008 seiner verstorbenen Ehefrau widmete und die Gold-Medaille mit einem Foto von ihr in der Hand entgegen nahm.
Oder wie die Berlinerin Lisa Unruh, die in Rio de Janeiro 2016 überraschend die Silber-Medaille im Bogenschießen gewann. Ihr Finale gegen die Südkoreanerin Chang Hye-jin schauten 7,52 Millionen Menschen. Allein in Deutschland wohlgemerkt. Nach dem Beachvolleyball-Halbfinale von Laura Ludwig und Kira Walkenhorst gegen Brasilien und den beiden Finals der deutschen Fußball-Nationalmannschaften war es die beste Einzel-Quote während der Spiele vor acht Jahren. Im Bogenschießen. Und womit? Mit Recht.
Olympia ist voll von Geschichten von menschlichen Höchstleistungen und Schicksalen. Olympia ist so, wie diese Welt sein könnte. Nicht perfekt und doch sehr, sehr schön und anrührend und atemberaubend. Und nirgends so gut nachzuvollziehen wie im Fernseh-Sessel. Wo sonst kann man eben noch beim Fechten und kurz darauf beim Taekwondo oder beim Segeln sein? Oder um es mit Fehlfarben zu sagen: Ich kenne das Leben, ich habe Olympia geschaut.
Sendung: rbb24 Inforadio, 26.07.2024, 19:15 Uhr
Beitrag von Ilja Behnisch
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