Union Berlin im Gosens-Dilemma
Vor einem Jahr ist Robin Gosens als Nationalspieler und Champions-League-Finalist zu Union gekommen. Sein Bundesliga-Traum ging in Erfüllung. Bei der Heim-EM musste er zuschauen. Seitdem wird spekuliert. Gosens hält sich bedeckt und schießt Tore. Von Anton Fahl
Erst verdrückte er Tränen der Enttäuschung, dann Tränen der Erleichterung. In einer Woche im Mai, der letzten der Bundesliga-Spielzeit 2023/24, kulminierte die Achterbahnfahrt der Gefühle des Robin Gosens.
Erst teilte ihm Bundestrainer Julian Nagelsmann mit, dass er nicht bei der Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land dabei sein wird – zumindest nicht im DFB-Trikot, auf dem Rasen. Dann gelang dem 1. FC Union Berlin am 34. Spieltag gegen den SC Freiburg, durch ein Tor von Janik Haberer in der Nachspielzeit, der Klassenerhalt im deutschen Oberhaus. Unter dem Strich dürfte bei Robin Gosens die Enttäuschung überwogen haben.
Auf den Tag genau vor einem Jahr, am 15. August 2023, ist der damals 29-Jährige als Nationalspieler und Champions-League-Finalist von Inter Mailand zu den Eisernen gewechselt. In Köpenick erfüllte sich Gosens seinen Kindheitstraum von der Bundesliga.
Vor allem lockte ihn aber nicht die Ruhe an der Wuhlheide nach Köpenick, sondern die Aussicht darauf, sich in Berlin – in der höchsten deutschen Spielklasse und in der internationalen Königsklasse – zu präsentieren und in Stellung zu bringen, um ein Ticket für die Heim-EM zu lösen. Eine Mission ohne glückliches Ende für Gosens.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Gosens als linker Schienenspieler des FCU eine überzeugende Premieren-Saison in der Bundesliga absolvierte. An 30 Liga-Spieltagen stand er auf dem Feld, vier Tore bereitete er vor, sechs weitere erzielte er selbst. Die meisten aller Unioner in der vergangenen Saison – einer Saison, die von mächtig Durchlauf im Kader, einer Negativserie historischen Ausmaßes und dem Ende der Ära Fischer geprägt war.
Seitdem wurden der neue Trainer Bo Svensson und der neue Geschäftsführer Profifußball Horst Heldt vorgestellt. Und über Gosens' Zukunft spekuliert. Mit anderen Worten: "Die Thematik Gosens ist noch in der Hängeschlaufe", wie Christian Beeck, ehemaliger Spieler und Sportdirektor des FCU, im rbb-Podcast "Hauptstadtderby" unlängst feststellte. "Eigentlich müsste der Junge den Verein verlassen, um das endlich mal zu klären und die Unruhe aus dieser Situation zu nehmen. Er selbst sagt derzeit gar nichts, was dafür spricht, dass er nicht so richtig weiß, wo er hinwill."
Eine Einschätzung, die Urbano Cairo teilt. Cairo ist Präsident des italienischen Erstligisten Torino FC und gab kürzlich zu Protokoll: "Wir sprechen seit drei Monaten mit ihm. Ich weiß, dass Gosens noch nachdenkt. Jetzt zeigt sich, dass er sich geschmeichelt fühlt. Es ist kein Problem des Gehalts, sondern der Überzeugung." Ein Wechsel nach Turin schien schon sehr konkrete Züge anzunehmen, ist jedoch nach wie vor nicht zu Stande gekommen.
Besonders im europäischen Ausland hat Gosens offenbar Begehrlichkeiten geweckt: Auch Crystal Palace und die PSV Eindhoven sollen an einem Transfer interessiert sein. Ein Abgang Gosens' könnte - neben den Gehaltseinsparungen - einen zweistelligen Millionenbetrag in die Köpenicker Kassen spülen und würde es den Verantwortlichen ermöglichen, selbst nochmal auf dem Transfermarkt aktiv zu werden. Schließlich sind die Einnahmen im Vergleich zur Vorsaison mit der Champions-League-Teilnahme ab sofort wieder deutlich geringer.
Horst Heldt, im Fußball-Zirkus mit allen Wassern gewaschen, bleibt derweil gelassen. "Er ist voll bei der Sache und hat einen Vertrag bei uns. Da steckt ganz viel Spekulation drin. Er ist ein Spieler mit enormer Qualität, der natürlich viel Interesse bei anderen Vereinen weckt. Wir sind aber sehr klar in unserer Überzeugung", so Unions Geschäftsführer Profifußball im Gespräch mit dem rbb. "Wir orientieren uns am Austausch mit Robin und seinem Berater, am Verständnis des Vertrages, den wir gemeinsam haben. Alles andere ist teilweise wilde Spekulation."
Fragt man wiederum Bo Svensson, ist die Sache klar: "Robin hat viel Power. Er haut sich jeden Tag rein, ist in der Kabine echt überragend. Von daher habe ich gar kein Interesse daran, dass er gehen soll." Im Falle eines Verbleibs dürfte Gosens somit auf dem linken Flügel erneut gesetzt sein, zumal Jerome Roussillon aufgrund einer Oberschenkelverletzung noch ausfällt.
Tom Rothe müsste sich dann wohl zunächst mit einem Platz auf der Bank begnügen. Der 19-Jährige zählte in der Vorsaison, auf Leihbasis im Trikot der KSV Holstein, zu den besten Spielern der zweiten Bundesliga. Erst stieg er mit Kiel auf, ehe er im Sommer von Borussia Dortmund nach Berlin wechselte. Fußballerisches Zuhause: der linke Flügel.
Rothe sei ein "junger Mann, der Spielpraxis braucht und klar mitgeteilt hat, dass er das will", so Christian Beeck im "Hauptstadtderby". "Ob das so funktioniert, wenn Gosens noch da ist, bezweifle ich mal. Das ist eine Baustelle im Kader, die schnellstens gelöst werden muss."
Wie diese Lösung konkret aussehen und vor allem, wann sie der Fußball-Welt präsentiert werden wird, steht derzeit noch in den Sternen. Doch wie jede knifflige Aufgabe hat auch diese eine Deadline: Das Sommer-Transferfenster schließt in Deutschland am 30. August 2024 um 20 Uhr.
Bis dahin bleibt Horst Heldt gelassen – und Robin Gosens der vielleicht torgefährlichste Spieler im aktuellen Kader des 1. FC Union Berlin. In der Generalprobe vor dem Pflichtspielauftakt erzielte er gegen Real Sociedad San Sebastian den einzigen, eisernen Treffer.
Sendung: rbb-Podcast "Hauptstadtderby", 13.08.2024
Beitrag von Anton Fahl
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