Mit Marc Oliver Kempf verlässt der nächste Leistungsträger Hertha BSC. Der Abgang des Innenverteidigers reißt eine riesige Lücke in den Plan von Trainer Fiél und ist daher eine Gefahr für Herthas Aufstiegsambitionen. Ein Kommentar von Marc Schwitzky
Der Comer See in der wunderschönen Lombardei, die erste italienische Liga mit Klubs wie Juventus, Inter oder Milan, ein finanzkräftiger Verein mit großem Gehaltsbudget, Champions-League-Sieger Raphael Varane als Partner in der Innenverteidigung und Fußballikone Cesc Fabregas als Trainer - es gibt wahrlich viele Gründe für Marc Oliver Kempf, dem Angebot von Como 1907 zu folgen. Der Innenverteidiger verlässt Fußball-Zweitligist Hertha BSC nach zweieinhalb Jahren - gerade als er erst so richtig angekommen zu sein schien.
Was für Kempf eine große Möglichkeit ist, stellt für Hertha einen riesigen Verlust und somit eine immense Herausforderung dar. Es ist ein herber Dämpfer für die Berliner, die in dieser Saison die Erstligarückkehr anpeilen, gerade zur spielerischen Einheit zusammenschmolzen und nun durch gleich mehrere Abgänge wieder auseinandergerissen werden.
Das macht Kempf so wertvoll
Bereits in der vergangenen Rückrunde zeigte Kempf, was ihn für eine Mannschaft so überaus wertvoll machen kann. Der Verteidiger gehört in der abgelaufenen Saison zu den kopfballstärksten Spielern der gesamten 2. Bundesliga - nur zwei gewannen mehr Kopfballduelle als er. Kempf bringt seine enorme Sprungkraft und das gute Timing defensiv wie offensiv ein - 2023/24 erzielte er vier Tore nach Standardsituationen. Hinzu kommt Kempfs bemerkenswerte Dynamik, die ihn zu einer verlässlichen Konterabsicherung macht.
Unter Herthas neuem Trainer Cristian Fiél schien Kempf noch eine weitere Stärke zeigen zu können. Der neue dominante Ballbesitz-Fußball ließ ihn nahezu aufblühen. In der Saisonvorbereitung war er womöglich der größte Gewinner der Taktikumstellung, spielte so selbstbewusst auf wie nie zuvor. Nach drei Partien hatte Kempf die sechstmeisten erfolgreichen Pässe aller Zweitliga-Spieler gespielt, hinzu kommt die sechstbeste Quote bei langen Bällen.
Zudem verzeichnete bislang nur ein Innenverteidiger in der 2. Liga mehr progressive Läufe mit Ball als Kempf. Der Linksfuß trug die Kugel immer wieder bis in die gegnerische Hälfte, um dort das Spiel auszulösen. So wurde Kempf im Ballbesitz schon beinahe zu einem verkappten zentralen Mittelfeldspieler, also genau zu dem, was Trainer Fiél sich von seinen Innenverteidigern situativ wünscht. Kempf und Fiél - es schien ein wunderbares Match zu sein.
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Es fehlt gleichwertiger Ersatz
Umso stärker schmerzt der plötzliche Abgang des 29-Jährigen. Zwar verfügt Hertha rein quantitativ über genügend Ersatz, doch keiner der Berliner Innenverteidiger kann den so großen Aufgaben- und Verantwortungsbereich Kempfs nahtlos übernehmen.
Kapitän Toni Leistner ist zwar führungs- und kopfballstark, doch fehlt es ihm an Tempo und technischem Vermögen, um zum einen die neuerdings so hochstehende "alte Dame" zu schützen und zum anderen das Aufbauspiel konstruktiv anzukurbeln. Marton Dardai ist zwar spielerisch überaus begabt, doch auch er hat Defizite im Tempo. Noch viel schwerwiegender ist aber, dass der 22-Jährige im Zweikampf - am Boden, aber vor allem in der Luft - Robustheit und Konsequenz vermissen lässt. Pascal Klemens ist zwar sehr talentiert, jedoch hat er im Profibereich noch keinerlei Erfahrung als Innenverteidiger und auch er ist längst nicht so kopfballstark wie Kempf.
So können die zahlreichen Alternativen zwar jeweils einzelne Eigenschaften Kempfs auffangen, doch im Gesamtprofil ist kein Innenverteidiger bei Hertha so "rund" aufgestellt wie er. Ohne Nachverpflichtung droht Herthas Abwehrzentrale ein immenser Qualitätsverlust.
Hertha ist an finanzielle Realitäten gebunden
Kempfs Abgang zeigt die bittere Realität eines wirtschaftlich angeschlagenen Zweitligisten auf, der stets damit rechnen muss, Achsenspieler kurz vor Transferende noch zu verlieren. Es kann kaum eine Resilienz gegen jene Angebote geben, da Hertha sportlich wie finanziell wenig entgegensetzen kann. Erst ging Torschützenkönig Haris Tabakovic, nun Kempf, dessen Gesamtbedeutung für die neue Spielphilosphie sogar noch höher einzuschätzen ist. Ob Spieler wie Fabian Reese oder Ibrahim Maza über den Sommer hinaus bei Hertha bleiben, steht noch in den Sternen. So droht Hertha mitten in der Saison ein Mini-Umbruch.
Ob wirtschaftlich sinnvoll oder nicht - der Abgang von Marc Oliver Kempf ist ein sportlich herber Verlust und somit eine Gefährdung der Aufstiegsziele Herthas. Sollte die "alte Dame" die Erstligarückkehr auch aufgrund solcher Abgänge verpassen, drohen wirtschaftliche Konsequenzen, die nicht von Transferseinnahmen in einstelliger Millionenhöhe aufgefangen werden können. Ein äußerst undankbarer Drahtseilakt für Herthas Verantwortliche.