"Wer richtig tippt, hat keine Ahnung vom Fußball", sagte einst Franz Beckenbauer. Andererseits: So schön wie in der Vorhersage wird die Saison von Hertha BSC nie wieder. Von Ilja Behnisch
Was da am Samstag Minuten vor dem Anpfiff zu hören ist, lässt nichts Gutes erahnen: "Die Mannschaft steckt mitten in der Entwicklung", "Wir befinden uns in einem Prozess", "Da fehlt es natürlich noch an Automatismen", "harte Vorbereitung", "Jungs haben gut mitgezogen", "viele neue Inhalte", "alles reinhauen", "alles raushauen" und drei Mal "Berliner Weg". Gleich elf Fußball-Floskeln in nur einer Minute gibt Herthas neuer Trainer, Cristian Ramon Fiél Casanova, zum Zweitliga-Auftakt gegen den SC Paderborn (3. August, 13 Uhr, live im Audiostream auf rbb|24) zum Besten. Neuer Zweitliga-Rekord!
Und es geht glatt so weiter. Denn trotz der Ausfälle von Fabian Reese und Kevin Sessa gewinnt die Mannschaft nicht nur souverän ihren Heimspiel-Auftakt, sondern eine Woche später auch noch das erste Auswärtsspiel beim Hamburger SV.
Freunde des gepflegten Vereinsfußballs kommen wieder auf ihre Kosten: Am Wochenende startet die neue Zweitliga-Saison. Hertha BSC hat mehr Dauerkarten als je zuvor verkauft und empfängt am Samstag den SC Paderborn im Olympiastadion. Von Anton Fahl
Reese-Revanche gegen Cottbus
Mit breiter Brust geht es demnach anschließend zum DFB-Pokal bei Hansa Rostock. Sportlich ist das Duell gegen den Drittligisten auch keine Herausforderung für die Berliner. Allein die durch eine historische Rivalität begründete Spielunterbrechung von sieben Stunden nach mehrfachem Koggenwurf sorgt für Gesprächsstoff.
Kurzzeitige Unruhe entsteht auch in der Folgewoche, als bekannt wird, das Peter Pekarik um drei Uhr nachts am Eingang einer Berliner Discothek abgewiesen wurde, weil er keinen Ausweis bei sich trug. Die Türsteher konnten schlicht nicht glauben, dass der Slowake volljährig, geschweige denn tatsächlich 37-jährig sei. Der Boulevard überschlägt sich. Erst nach der dritten Pressemitteilung des Klubs ist vollumfänglich akzeptiert, dass Pekarik gar nicht mehr unter Vertrag steht bei Hertha BSC.
Sportlich hingegen klappt es weiter wie eine Tür. Inklusive des Freundschaftsduells gegen den Karlsruher SC am zehnten Spieltag, für den die Ultras beider Vereine einen Fanschal von Berlin bis Baden gestrickt haben (neuer Zweitliga-Rekord!), siegt die Mannschaft in neun ihrer Spiele. Einzig die Heimpartie gegen die Sportvereinigung Elversberg am 29. September (13:30 Uhr, live im Audiostream auf rbb|24) geht wegen akuter Überheblichkeit mit 0:4 verloren. In einem schweren Fall von Schlagzeilen-Stau bringen anschließend gleich 89 Medienhäuser die Überschrift "Fiél zu wenig" (neuer Zweitliga-Rekord!).
Ende Oktober dann nimmt er Fahrt auf, der stürmische Hertha-Herbst. In der zweiten DFB-Pokalrunde treffen die Hauptstädter auf Energie Cottbus, die ihr Erstrunden-Duell gegen Bundesligist Werder Bremen überraschend mit 1:0 nach Elfmeterschießen für sich gewinnen konnten. Beflügelt vom Sensations-Coup stürmte die Truppe von Energie-Trainer Claus-Dieter Wollitz seither bis an die Tabellenspitze der dritten Liga. Und dann war da ja noch die Sache mit Fabian Reese.
Herthas Flügelstürmer Reese, bekannt aus Powerformaten wie der Icon-League oder einem Flohmarkt-Stand auf dem Boxhagener Platz, hatte sich in der Saison-Vorbereitung bei einem Testspiel gegen die Cottbuser schwer verletzt. Anschließend kochten die Gemüter in die Höhe, der Vorwurf der Unsportlichkeit war noch die zarteste Beigabe der folgenden Auseinandersetzungen. Im Pokal siegt Hertha dank eines Reese-Treffers (ausgerechnet!) in der dritten Minute der Nachspielzeit. Reeses "Jubel" in Richtung der kompletten Lausitz sorgt für 23 rote Karten auf beiden Seiten (Zweitliga-Rekord!).
Zur Ruhe kommt der Verein auch danach nicht. Auf der Mitgliederversammlung am 17. November (ab 11 Uhr im rbb|24-Liveticker) macht Hertha-Legende und Ex-Trainer Pal Dardai es tatsächlich wahr und kandidiert als Hertha-Präsident. Seine Bewerbungsrede ist voll von Gulasch-Anekdoten, Tiervergleichen und Pointen so spitz wie der Funkturm, weshalb sie im Nachgang als Stand-up-Programm an Netflix veräußert wird. Mit den Erlösen gelingt es dem durch 94 Prozent der anwesenden Mitglieder gewählten Neu-Präsidenten Dardai in der Folge, die 78,8 Prozent der Anteile zurückzukaufen, die bis zuletzt dem Investor 777 Partners gehörten.
Sorgen, der Präsident Dardai wolle vor allem den Trainer Dardai wieder auf seinen angestammten Platz verbringen, erweisen sich hingegen als unbegründet. Dardai lobt und schätzt Cristian Ramon Fiél Casanova nach Leibeskräften. Kann aber auch nichts machen, als der FC Bayern München in der Winterpause einen Nachfolger für den glücklosen Vincent Kompany sucht. Immerhin: Mit den zehn Millionen Euro Ablöse, die Fiél dem unangefochtenen Spitzenreiter der zweiten Liga einbringt, kann Trainer-Präsident Dardai die Mannschaft nach seinen Vorstellungen umbauen. Der für 9,99 Millionen Euro vom VfB Stuttgart verpflichtete Ex-Herthaner Maxi Mittelstädt ist das fehlende Puzzleteil zum sicheren Aufstieg und: Zweitliga-Rekord!