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Quelle: picture alliance/AP Images | Diether Endlicher

Die Geschichte des Parasports

Von Pionieren und Durchbrüchen

In Paris starten kommende Woche die 17. Paralympischen Sommerspiele. Die Geschichte des Parasports ist eng verknüpft mit einem jüdischen Arzt, der sich gegen alle Widerstände zum Trotz mit seiner Vision durchsetzte - wie die Parasportler selbst. Von Fabian Friedmann

Kurz vor Ende des 1. Weltkriegs volontiert ein junger Mann in einem Krankenhaus in Königshütte in Oberschlesien. Ein Soldat wird mit einer Rückenverletzung eingeliefert und als der junge Mann Notizen zu dem Patienten anfertigen will, wird ihm gesagt: Nicht um den Verletzten kümmern, der wird sterben. Fünf Wochen später war der Mann verstorben – an Nierenversagen und Wundfieber. Dieses Erlebnis wird Ludwig Guttmann sein ganzes Leben lang nicht vergessen.

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Guttmann, der Parasport-Pionier

1939 musst der praktizierende Arzt aufgrund seiner jüdischen Herkunft vor den Nazis nach Großbritannien fliehen. Dort baut er ein Zentrum zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen auf, es heißt Stoke Mandeville in dem kleinen Örtchen Aylesbury nahe London. "Guttmann war ein Pionier, weil er entgegen der damaligen Meinung das Konzept vertrat, dass Querschnittgelähmte sich für die Rehabilitation auch bewegen sollen", erklärt die Berliner Sportwissenschaftlerin Gudrun Doll-Tepper.

Trotz der Widerstände anderer Ärzte setzt sich Guttmann am Ende durch. 1948 ruft er die Stoke Mandeville Games ins Leben, die erste paralympische Sportveranstaltung überhaupt. Zunächst sind es sportliche Vergleiche für Kriegsversehrte im Rollstuhl. Sie spielen beispielsweise Boccia, aber noch sind keinerlei Ausdauerübungen dabei. Doch schon damals hat Guttmann die Vision, dass seine Spiele ähnlich groß werden sollten wie die Olympischen Spiele, weshalb er den Start der Mandeville Games auf den Tag der Spiele von London legt.

Die undatierte Aufnahme zeigt den jüdischen Arzt Ludwig Guttmann (vorne rechts) in England vor einigen Rollstuhlfahrern. (Bild: picture alliance / dpa | Buckinghamshire Healthcare Trust). | Quelle: picture alliance / dpa | Buckinghamshire Healthcare Trust

In Rom finden erstmals Paralympische Spiele statt

Es dauert bis 1960, ehe im Olympiastadion von Rom die Paralympischen Spiele erstmals über die Bühne gehen konnten. Guttmann ist laut Doll-Tepper weiterhin die "treibende Kraft" hinter der Parasport-Bewegung. Die Spiele finden damals unter einfachsten Bedingungen statt. Die Sportstätten sind nicht behindertengerecht geplant. Aber: Die Trainingsbedingungen verbessern sich. Guttmann geht den Weg an die Öffentlichkeit, bekommt eine Audienz bei Papst Johannes XXIII. und schafft so mediale Aufmerksamkeit.

1966 wird Guttmann von Queen Elisabeth zum Ritter geschlagen und darf sich fortan "Sir" nennen. Während Guttmanns Fokus weiterhin auf Sport für Querschnittlähmung liegt, wollen jetzt auch andere Gruppen des Behindertensports teilnehmen. Nicht nur Kriegsversehrte, sondern auch Menschen aus dem alltäglichen Leben mit einer Behinderung kommen dazu und beginnen sich zu organisieren. In West-Deutschland wird der kurz nach dem Krieg gegründete "Versehrtensportverband" in "Deutscher Behindertensportverband" umbenannt. Im Osten gründet sich der "Deutsche Versehrtensportverband". "Der Fokus lag aber noch immer im rehabilitativen Aspekt des Sports", meint Doll-Tepper.

Der große Wendepunkt in Seoul

Der Leistungsgedanke, dass die besten Parasportler der Welt sich gemeinsam bei Paralympischen Spielen messen sollen, kommt zunehmend in den achtziger Jahren auf. Das Material wird besser, die Prothesen für die Sportler werden den sportlichen Herausforderungen angepasst. Auch sehbehinderte und geistig behinderte Organisationen sind nun Teil der Bewegung. 1976 finden in Schweden erstmals paralympische Winterspiele statt.

Aber erst zu den Paralympischen Sommerspielen 1988 in Seoul sind alle Behindertensportler unter einem Dach vereint. Und endlich können sie auch an den gleichen Wettkampfstätten wie die Olympische Spiele ihre Wettkämpfe austragen. Gudrun Doll-Tepper ist vor Ort in Seoul und beschreibt die damalige Stimmung: "Die Stadien waren sehr gut besucht, weil man auch viel Werbung dafür gemacht hatte."

Die Sportwissenschaftlerin macht Werbung für einen im Juni 1989 organisierten "Weltkongress für Sport mit Behinderung" in Berlin. Im Nachgang bleibt sie in enger Verbindung mit dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC), das sich im September 1989 gegründet hatte. In den folgenden Jahren arbeitet sie als Funktionärin an der Weiterentwicklung des paralympischen Sports. Die wichtigsten Fragen: Welche wissenschaftlichen Anstöße sind nötig für den Behindertensport? Wie fördert man Talente? Auf vielen Gebieten macht man in den folgenden Jahren Fortschritte. Unternehmen helfen bei der Herstellung von Sport-Prothesen und -Rollstühlen und sorgen damit weltweit für einen Leistungsschub bei Parasportlern.

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Der Durchbruch in Barcelona

1992 in Barcelona erfolgt dann der große Durchbruch für die Paralympischen Spiele. Die Öffentlichkeit nimmt einem enormen Anteil an den Sportveranstaltungen. Die Besucherzahlen explodieren. "Wir mussten am Schwimmstadion warten, bis ein Zuschauer herauskam, dass wir reingehen konnten", erinnert sich Doll-Tepper. "Es war voll, überall war es voll." Über 3.000 Athleten aus 82 Ländern nehmen an den Paralympischen Sommerspielen 1992 teil. In 15 Sportarten werden um Medaillen gekämpft. Deutschland belegt im Medaillenspiegel Platz 2 – knapp hinter den USA.

Dieser Erfolg der deutschen Mannschaft unterstreicht auch die verbesserte Parasport-Förderung hierzulande, die in den folgenden Jahrzehnten eine enorme Professionalisierung erfährt. Paralympische Athleten können nun auch an den Olympiastützpunkten trainieren. Aber erst 2017 wird das Bundesleistungszentrum in Kienbaum in Brandenburg in "Olympisches und Paralympisches Trainingszentrum für Deutschland" umbenannt.

Fokus Talentförderung

Für die Zukunft sei es laut Doll-Tepper essenziell wichtig, dass noch mehr Mittel in die frühzeitige Sichtung und Förderung von Talenten gesteckt werden. Andere Länder wie USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich sind da einen Schritt voraus. Auch müsse man unterschiedliche Behinderungsarten in Betracht ziehen. Nicht nur auf die Schule, sondern auch auf die klinische Reha müsse sich fokussiert werden. Ein sehr gutes Beispiel für frühe Förderung ist "Jugend trainiert". Seit 2013 stehen hier auch paralympischer Sport im Fokus. 800.000 Schülerinnen und Schüler nehmen jährlich daran teil.

Auch die gesellschaftliche Akzeptanz der Parasportler habe sich aus Sicht von Doll-Tepper sehr zum Positiven entwickelt, wobei es nach wie vor etwas zu tun gebe. "Wichtig wäre für die Zukunft, dass der Parasport auch abseits der Paralympics mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit bekommt", sagt sie.

Parasportler auch bald Olympischen Spielen?

Markus Rehm ist hier ein gutes Beispiel. Der Ausnahme-Weitspringer hat bereits viermal Paralympics-Gold geholt, sein Weltrekord von 8,72 m liegt nur wenige Zentimeter unter dem von Mike Powell (8,95 m) - einem nichtbehinderten Weitspringer, die die Bestweite 1991 aufstellte. Zuletzt hatte Rehm offen darüber nachgedacht bei den Olympischen Spielen anzutreten, wobei dies nach wie vor ein schwieriges Terrain sei, so Doll-Tepper. Allein die Vergleichbarkeit der Leistungen mit und ohne Prothesen könnte Probleme verursachen.

Der südafrikanische Sprinter Oscar Pistorius war bislang der einzige Sportler, der an beiden Wettbewerben teilgenommen hatte. Die Paralympics hätten auch im Grunde ein Alleinstellungsmerkmal und das sollten diese auch nicht verlieren, wobei es mittlerweile nur noch ein Organisationskomitee für beide Spiele gibt, betont Doll-Tepper. Da hat bereits eine Annäherung stattgefunden. "Als ich das erste Mal die Paralympics erlebt habe, hätte ich mir nie erträumen lassen, was für eine Entwicklung das alles nehmen würde", sagt sie.

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In Paris gehen die Paralympischen Sommerspiele ab Mittwoch in ihre 17. Auflage. Gudrun Doll-Tepper wird wieder vor Ort sein und freut sich auf die "einmalige Vielfalt der Spiele". Medaillen werden diesmal in 22 Disziplinen unter über 4.400 Athletinnen und Athleten vergeben, darunter nach wie vor im Boccia, im Rollstuhl-Rugby, Blindenfußball oder in der Para-Dressur.

Bei Letzterem wird Doll-Tepper auch die Medaillen bei der Siegerehrung verleihen dürfen. "Das sind für mich ganz besondere Momente, wo ich mich auf die Begegnung mit den Sportlerinnen und Sportlern aus aller Welt freue", sagt sie.

Weitspringer Markus Rehm hat angekündigt, in seinem Wettbewerb die neun Meter attackieren zu wollen. Sollte dem 36-Jährigen dieser Sprung gelingen, wäre er der erste Mensch, der diese Schallmauer durchbrechen würde. Eine sportliche Leistung, die historisch wäre, ganz egal, ob mit oder ohne Behinderung.

Sendung: rbb24|Inforadio, 28.08.2024, 11:15 Uhr

Beitrag von Fabian Friedmann

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