Erste Erfolge und Baustellen
Hertha BSC hat einen durchwachsenen Saisonstart hingelegt, doch zuletzt zeigte die Formkurve klar nach oben. Das liegt vor allem daran, dass die Mannschaft die Spielphilosophie von Trainer Cristian Fiél immer stärker verinnerlicht. Von Marc Schwitzky
"Man könnte es darauf runterbrechen, dass ich lieber 4:3 gewinne als 0:0 spiele", charakterisierte Cristian Fiél einst seine Spielphilosophie. Angesichts des 4:3-Sieges von Hertha BSC gegen den 1. FC Kaiserslautern am vergangenen Zweitliga-Spieltag muss der Berliner Trainer seine Mannschaft also wohl auf dem goldrichtigen Weg sehen.
Doch selbstverständlich ist die "alte Dame" nach vier Spieltagen unter dem neuen Übungsleiter noch nicht am Ende des Lernprozesses angelangt – trotz der bereits erkennbaren Handschrift ist noch viel für Fiél und seiner Trainerteam zu tun. Das zeigt auch die bisherige, noch ausbaufähige Bilanz von sieben Punkten aus vier Ligaspielen.
In der vergangenen Saison sind die sportlichen Differenzen zwischen Ex-Trainer Pal Dardai und den Vereinsverantwortlichen sehr offensichtlich geworden. Der Ungar bewertete den Profi-Kader deutlich anders als Sportdirektor Benjamin Weber oder Andreas "Zecke" Neuendorf, Leiter der Lizenzspielerabteilung. Während Dardai immer wieder behauptete, dass mit dieser Mannschaft einzig destruktiver "Umschaltfußball" möglich sei, wiesen die Verpflichtungen eher daraufhin, dass Herthas sportliche Führung mehr Ballbesitz und Spielkontrolle anstrebt. Sie erkannten mehr Potenzial.
Auch deshalb hatten sich die Berliner für Cristian Fiél entschieden, der vom spanischen Ballbesitzspiel sehr hohe Dominanz anstrebt. Jenen Spielstil konnte der 44-Jährige bei seinen vorherigen Stationen in Dresden und Nürnberg aufgrund der individuellen Qualität der Spieler jedoch kaum umsetzen. In Berlin traf Fiél nicht nur auf einen für die zweite Liga fußballerisch bereits sehr guten Kader, Neuverpflichtungen wie Michael Cuisance oder Diego Demme erleichtern einen Ansatz mit Ball deutlich.
Bereits die ersten Ligaspiele haben klargestellt: Fiél hat eine überaus ambitionierte Spielphilosophie, die ein Höchstmaß an Konzentration, Mut und Lauffreude von ihren Spielern abverlangt. Immer die spielerische Lösungen finden, immer aktiv sein, immer mutig in den Druck hineinspielen, viele Positionsrochaden und ein aggressives Gegenpressing – der Deutsch-Spanier stellt nahezu alles auf den Kopf, was die Spieler zuvor von Vorgänger Dardai gelernt hatten.
Dass die Mannschaft jedoch erste Erfolge erzielt und die Handschrift des Trainer umsetzt, zeigt sich vor allem darin, dass die Ballbesitzwerte der Blau-Weißen regelrecht explodiert sind. In der zurückliegenden Saison gehörte Hertha statistisch in nahezu allen Werten mit Ball zum schlechtesten Drittel der 2. Bundesliga, in einzelnen Aspekten belegten die Berliner sogar Rang 16 oder 17. Unter Fiél hat sich das Bild komplett gedreht. Mit vier Prozent Abstand hat Hertha nach vier Spielen den meisten Ballbesitz in der Liga – 59 Prozent. Ganz nach Fiéls Geschmack.
Ballbesitz als Selbstzweck ist selbstredend nicht zielführend. So könnten sich die beiden Innenverteidiger ja auch stundenlang die Kugel zuschieben, ohne dass etwas dabei entsteht. So stellte es sich oft in der letzten Saison, in der Hertha viel "tiefen" Ballbesitz hatte, dar. Doch unter Fiél verbucht Hertha den zweithöchsten Ballbesitz im mittleren und vordersten Bereich des Felds, zudem die zweitmeisten Ballkontakte im gegnerischen Strafraum. Herthas Spiel ist also klar nach vorne ausgerichtet.
Hinzu kommt die bislang beste Passquote aller Zweitligisten (87,5 Prozent), die ein Nachweis für kontrollierten Ballbesitz ist. Allerdings passieren Hertha noch zu viele Leichtsinnsfehler im Spielaufbau. So kassierten die Berliner in Kaiserslautern zwei absolut vermeidbare Gegentore - auch im Pokal gegen Hansa Rostock lud man den Gegner durch einen individuellen Patzer zum Toreschießen ein.
Jene Werte sind auch deshalb beeindruckend, weil Fiél im Spielbetrieb Anpassungen vornehmen musste. In der Vorbereitung baute Hertha noch dogmatisch in einem 3-2-System auf. Bedeutet: Im Spielaufbau rückt ein Außenverteidiger neben die beiden Innenverteidiger, während der andere Außenverteidiger neben den defensiven Mittelfeldspieler nach innen zieht. So sollen sich variable Spieleröffnungen durch das nummerisch überlegene Zentrum ergeben, von wo aus schnell auf den offensiven Außenbahnen gespielt werden soll.
Doch Fiél musste nach den ersten Pflichtspieleindrücken erkennen, dass jeder Spielaufbau noch zu anspruchsvoll für seine Mannschaft ist. Deshalb wich er davon ab und stellte um. Mittlerweile baut Hertha öfter mit der Unterstützung mehrerer zentraler Mittelfeldspieler auf, damit die Außenverteidiger ihre gewohnteren Rollen in der Spielbereite ausfüllen können. Es ist nicht der ursprüngliche Plan Fiéls, passt derzeit aber besser zum vorhandenen Personal und zeigt, dass sich der Trainer anpassen kann.
Dass die Verteidiger im Spielaufbau nun etwas freier sind und dadurch höher stehen können, ist auch den Problemen auf den offensiven Flügelpositionen geschuldet. Besonders durch den längerfristigen Ausfall von Unterschiedsspieler Fabian Reese hat Hertha derzeit ein Qualitätsdefizit auf Links- und Rechtsaußen. Das zeigt sich vor allem in der Entscheidungsfindung. Den Berlinern gelingt es unter Fiél bereits herausragend, den Ball durch klare Spielmuster und ständige Dreiecksbildungen kontrolliert in die offensiven Räume zu befördern. Das Überleiten ins letzte Angriffsdrittel funktioniert.
Doch dort angekommen, tut sich Hertha noch schwer. Zwar schlägt Hertha die ligaweit meisten Flanken aus dem Spiel heraus, verbucht allerdings nur die elfmeisten Torschüsse in Liga zwei. Herthas offensive Flügelspieler treffen noch zu oft die falsche Entscheidung, nehmen beispielsweise Tempo aus dem Spiel, trauen sich nicht, die Tiefe zu bespielen oder ins direkte Dribbling zu gehen. So fällt es den Gegnern noch zu leicht, gegen Hertha einfach nur tief zu stehen und so nur wenig gefährliche Chancen zuzulassen. Hertha kriegt die letzte Abwehrreihe noch zu selten geknackt und muss dringend zwingender werden. Das letzte Spiel gegen Kaiserslautern war dahingehend eine klare Verbesserung, doch es wird mehr Partien jener Art brauchen, um einen robusten Trend abzuleiten.
Verbesserungspotenzial gibt es auch im Läuferischen – mit und gegen den Ball. Im Vergleich zur Vorsaison sind Herthas Spieler zwar deutlich präsenter im Ballbesitz, sie bieten sich merklich öfter an, doch hier ist längst noch nicht das Maximum erreicht. Um langfristig mit dominantem Ballbesitz auftrumpfen zu können, braucht es noch mehr Bewegung abseits des Balles, um den Gegner auseinanderzuziehen und dadurch Räume zu öffnen. Sonst wird als Ballbesitz sehr schnell ein lahmendes Element.
Im Bereich der Laufdistanz als auch den Sprints belegen die Hauptstädter bislang Rang elf in der Liga, bei den intensiven Läufen Rang neun. Das sind – auch aufgrund des vielen Ballbesitzes – akzeptable Werte, aber bei weitem noch keine guten. Besonders gegen den Ball muss Hertha noch aktiver werden, denn das aggressive Gegenpressing ist eine Grundkomponente des Fiél’schen Fußballs, da seine Mannschaften in der Regel so hoch stehen, dass ein Ballverlust sehr teuer werden kann. Herthas Gegenpressing greift bereits in vielen Situationen gut, doch ist definitiv noch verbesserungswürdig – auch um solch hektische Spielverläufe wie gegen Kaiserslautern zukünftig zu verhindern.
Doch wie bei so vielen anderen taktischen Aspekten zeigt sich: Hertha ist unter Fiél auf dem richtigen Weg. Doch jener Weg, der möglichst im Aufstieg münden soll, ist noch ein sehr langer.
Sendung: rbb UM6, 08.09.2024, 18 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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