Laufsport
1988 nahm Roland Winkler am Marathon in West-Berlin teil und landete anschließend sogar auf dem Cover eines westdeutschen Lauf-Magazins - und das als DDR-Bürger. Möglich machten das ein Schlupfloch und eine Tante in Nürnberg. Von Marc Schwitzky
Roland Winkler hat in seiner Karriere – oder sollte man eher Laufbahn sagen – als Marathon-Enthusiast sehr viel erlebt. Die Leidenschaft am Laufen hat den mittlerweile 77-Jährigen an die verschiedensten Orte gebracht. 1995 organisierte Winkler den ersten Marathon in Ägypten, anschließend sorgte er auch auf Mauritius und in Namibia für die Premiere.
Doch das wohl ungewöhnlichste Rennen, an dem er jemals teilnahm, fand 1988 statt – und das, obwohl es nur wenige Kilometer von seiner damaligen Heimat entfernt war.
"Es war 1988, ich war DDR-Bürger. Ich war sportbegeistert und auch Marathonläufer, aber noch nie im Westen gestartet", erzählt Winkler. Wie denn auch? Schließlich war Berlin damals von der Mauer getrennt, solch ein Westberliner Ereignis blieb ihm somit verwehrt.
Doch Winkler hatte eine Idee. Damals war es DDR-Bürger:innen erlaubt, ältere Verwandte im Westen zu besuchen. Winkler hatte eine Tante in Nürnberg – ein Glücksfall für ihn. "Sie hatte ihren Geburtstag glücklicherweise genau so gelegt, dass es perfekt mit dem Berlin-Marathon passte", erinnert er sich.
"Ich hatte also eine Ausreisegenehmigung, bin zu meiner Tante nach Nürnberg gereist und habe das Umtauschgeld in Empfang genommen." Doch auf der Rückreise stieg Winkler nicht wie vorgesehen am Bahnhof Friedrichstraße aus. Stattdessen beendete er seine Rückreise am Bahnhof Zoo, wo bereits ein Bekannter auf ihn gewartet hatte, bei dem er übernachten konnte. Jener Bekannter hatte ihm auch die Startnummer für den anstehenden Marathon besorgt.
Am nächsten Tag war es so weit. Winklers Plan war aufgegangen, es ging zum Berlin-Marathon. Dort angekommen, warfen ihn die Eindrücke regelrecht um. "Ich war von der Vielfältigkeit begeistert. Es waren rund 15.000 Teilnehmer, ein buntes Stimmengewirr – das kannten wir so nicht", erinnert er sich. "Ich war wirklich ergriffen."
Kurz vor Beginn des Rennens stieg Winkler auf ein Podest, das ihm einen Blick hinter die Todesmauer ermöglichte. Er konnte von dort aus in sein Berlin blicken. "Dort war nichts los, ein normaler Sonntagmorgen, zwei bis drei Grenzsoldaten." Doch hinter ihm die brodelnde Menge.
"Ich war hin- und hergerissen", fühlt sich Winkler in sein damaliges Ich ein. "Einerseits war ich unheimlich erfreut, endlich im Westen einen Marathon laufen zu können. Andererseits war ich auch wehmütig, denn viele meiner Freunde hätten auch gerne mitgemacht."
Winkler war so motiviert, dass er sich für den Start des Rennens in die erste Reihe gedrängelt hatte. Als der Startschuss fiel, hatte er vor lauter Aufregung und Euphorie die Arme nach oben gerissen. Ein breites Grinsen durchdringt das damals so bärtige Gesicht. Diesen Moment hat Manfred Steffny, der damalige Chefredakteur des Laufmagazins "Spiridon", mit seiner Kamera festgehalten und im nächsten Heft auf die Titelseite genommen.
"Dadurch kam ich als DDR-Läufer auf die Titelseite. Die Überschrift war: 'Der Läufer mit der Startnummer X348 freut sich, in seiner Heimatstadt Berlin Marathon laufen zu dürfen'", erzählt Winkler mit einem schelmischen Grinsen.
Mit der Zeit habe er mitbekommen, dass wohl gleich um die 30 weiteren DDR-Bürger:innen am Marathon teilgenommen haben, sagt er. "Es war ja auch nie verboten, wir haben nur keine Möglichkeit bekommen, offiziell zu starten." Seine Startnummer von damals hat Winkler heute noch, feinsäuberlich im Poesie-Album abgeheftet.
Winkler lief jenen Marathon in zwei Stunden und 37 Minuten. Er sei damals nicht so richtig in Form gewesen, vor lauter Aufregung habe er vermutlich sogar zu viel trainiert. "Aber das war völlig egal, ich habe den gesamten Lauf genossen. Ich habe heute noch Gänsehaut, wenn ich an den Zielgeradenlauf zurückdenke."
Trotz dieses Abenteuers empfindet Winkler einen anderen Marathon als seinen bedeutendsten Lauf. 1990 fand der Vereinigungsmarathon nach dem Mauerfall im Herbst zuvor statt. Eine der damals vielen großen Symboliken der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland. Zum ersten Mal führte der Berlin-Marathon- durch das Brandenburger Tor - vom Westen in den Osten.
25.000 Zuschauende waren gekommen, um den Läufer:innen bei diesen historischen Metern zuzujubeln. "Es war ein irres Gefühl, durch das Brandenburger Tor zu laufen. Der ganze Lauf war wie im Rausch", blickt Winkler beseelt zurück.
Winkler hat sein Leben dem Laufen verschrieben. Er nahm an mehr als 200 Marathons teil und sorgte mit einer Zeit von sechs Stunden und 45 Minuten auf 100 Kilometer für den ewigen DDR-Rekord. Durch seine international organisierten Marathons wurde er zudem zu einem Entwicklungshelfer des Laufsports. Seine Bestzeit bei einem herkömmlichen Marathon betrug einst zwei Stunden und 17 Minuten – damit würde er auch heute noch zur Spitzengruppe gehören, merkt Winkler an.
Sendung: rbb24, 26.09.2024, 21:45 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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