Umstrittener Berliner Fußballprofi
Der gebürtige Berliner Jerome Boateng spielt inzwischen in Linz. Wegen Vorfällen in seinem Privatleben ist der Ex-Nationalspieler umstritten. In Österreich gibt es Applaus, aber auch "Frauenschläger"-Rufe und anderen Protest. Von Lynn Kraemer
Der umstrittene Berliner Fußballprofi Jerome Boateng hat wieder einen neuen Verein. Im Mai unterschrieb er beim Linzer Athletik-Sport-Klub (LASK). Seit dem Transfer wird allerdings weniger über seine Leistungen als seine Vergangenheit diskutiert: Soll ein Fußballer, über den seine Ex-Partnerinnen wiederholt Gewaltvorwürfe äußerten, weiter professionell spielen dürfen?
Der LASK ist nicht der erste Fußballklub, der diese Frage für sich mit "Ja" beantwortete. Der Ex-Nationalspieler stand von 2021 bis 2023 bei Olympique Lyon unter Vertrag. Danach trainierte er zwischenzeitlich wieder beim FC Bayern München, für den er bereits knapp zehn Jahre gespielt hatte.
Bayern-Sportdirektor Christoph Freund sagte damals: "In erster Linie spielen sportliche Überlegungen eine Rolle. [...] Es gibt da aktuell ein Verfahren, aber aktuell ist das ausgesetzt und darum ist das auch seine private Geschichte. Deshalb ist das kein großes Thema für uns." Die Fans des Rekordmeisters reagierten mit viel Kritik. Letztlich sah der FCB von einer Verpflichtung ab, weil sich die Verletzungssituation im Kader entspannte. Boateng wechselte schließlich nach sechs Monaten Vereinslosigkeit zum süditalienischen Klub US Salernitana 1919.
Nach dem Abstieg des italienischen Erstligisten verabschiedete sich Boateng und wechselte nach Österreich. LASK-Geschäftsführer Siegmund Gruber bezeichnete den Transfer in einem Vereinsstatement am 31. Mai als "absoluten Wahnsinn" und den 36-Jährigen als "einen international begehrten Ausnahmespieler und Vorzeigeathleten" [lask.at].
Die Reaktionen auf dem Instagram-Kanal des Vereins fielen anders aus. Neben zahlreichen Empfehlungen für den Spiegel-Podcast "NDA: Die Akte Kasia Lehnhardt" wurden in den Kommentaren die moralischen Werte des Vereins in Frage gestellt und Kotz-Emojis ("Beschämend!!!") geteilt.
Während in deutschen Medien ausführlich über die Gewaltvorwürfe gegen Boateng berichtet wurde, wurde der Weltmeister von 2014 in Österreich bis zu seinem Wechsel vor allem als Fußballer wahrgenommen. "Natürlich hat man die Geschichte gekannt und irgendwie verfolgt, aber das wirkliche Wissen über den Fall war bei Weitem nicht so groß wie in Deutschland", so Journalist Harald Bartl, der als stellvertretender Ressortleiter Sport bei den Oberösterreichischen Nachrichten (OÖN) auch über den Linzer ASK berichtet. Als das Thema durch den Wechsel präsent wurde, sei die Aufregung sehr groß gewesen.
Wegen einer gewalttätigen Auseinandersetzung in einer früheren Beziehung befand sind Boateng sechs Jahre in einem Rechtsstreit. Das Landgericht München I verurteilte Jerome Boateng und verhängte im Juli eine Verwarnung mit Strafvorbehalt über 40 Tagessätze zu je 5.000 Euro. Ähnlich wie bei einer Freiheitsstrafe auf Bewährung muss Boateng die insgesamt 200.000 Euro nur zahlen, sollte er gegen seine Auflagen verstoßen. Die sehen vor, dass er jeweils 50.000 Euro an zwei gemeinnützige Einrichtungen zahlen muss, die sich für Kinder einsetzen. Die Staatsanwaltschaft München I legte erst Revision ein, zog sie Anfang September jedoch zurück. Das Urteil ist somit rechtskräftig.
Auch wegen seines Verhaltens gegenüber seiner Ex-Partnerin Kasia Lenhardt steht Boateng noch immer in der Kritik. Lenhardt beging im Februar 2021 Suizid. Sie hatte ihm ebenfalls Körperverletzung vorgeworfen. Wenige Tage vor ihrem Tod veröffentlichte die Boulevardzeitung "Bild" ein Interview mit Boateng, in dem er sich abfällig über sie äußerte.
Zuletzt war Lenhardts Mutter gegen mehrere Interview-Aussagen vorgegangen und wollte Boateng gerichtlich verbieten, sie zu wiederholen. Die Argumentation: Boatengs Aussagen verfälschten das Lebensbild ihrer Tochter. In einem von sechs Punkten bekam sie vor dem Landgericht Berlin im November 2022 recht. Boateng darf seitdem nicht mehr behaupten, dass Kasia Lenhardt "Lügen" über ihn verbreitet habe.
Lenhardts Mutter klagte in zweiter Instanz vor dem Kammergericht, um auch die fünf weiteren Aussagen zu verbieten. Ende August entschied der Richter jedoch, dass die Aussagen "nicht derart schwerwiegend seien", dass sie untersagt werden müssten. "Für eine Verletzung des postmortalen Achtungsanspruchs müsse eine Verletzung der Menschenrechte vorliegen", so Richter Oliver Elzer vom Kammergericht Berlin. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, jedoch ließ das Gericht keine Revision zu. Lenhardts Mutter kann beim Bundesgerichtshof Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision einlegen. [Update, 13.09.2024: Wie der anwaltliche Vertreter von Adrianna Lenhardt nach Veröffentlichung dieses Beitrags mitteilte, wurden beim Bundesgerichtshof bereits Rechtsmittel eingelegt.]
Auf dem LASK-Fanblog "seit1908" wurde einen Tag nach der Transfermeldung ein Gastkommentar veröffentlicht, der an beide Fälle erinnerte und die sofortige Vertragsauflösung forderte. "Es kann und darf nicht sein, dass sich einige wenige immer wieder über jeglichen Wertekanon hinwegsetzen und damit unseren Verein in ein Licht rücken, das dem Image des Vereins nachhaltig schadet. Misogyne bzw. häusliche Gewalt ist dabei keine Privatsache, Täterschutz kein Kavaliersdelikt", schrieb die Gastautorin [seit1908.at].
Bei einem Freundschaftsspiel der Fußballerinnen von Blau-Weiß Linz/Union Kleinmünchen gegen den LASK am 2. Juni zeigten Fans Banner mit den Aufschriften "Gratuliere Dr. Gruber zu den neuesten Transfer-Schlagzeilen" [gemeint ist LASK-Geschäftsführer Siegmund Gruber] und "Keine Bühne für Täter! Ruhe in Frieden Kasia!". Eine Trainerin des FC Blau-Weiß Linz trug aus Protest den Namen von Lenhardt in großer Schrift auf dem Rücken ihrer Jacke. Die LASK-Verantwortlichen reagierten nicht auf die Kritik und warteten ab.
Bis zum ersten Spiel des Innenverteidigers vergingen noch einige Monate. Zum Saisonstart fiel Boateng mit Adduktorenbeschwerden aus und wurde erstmals am 17. August gegen RB Salzburg in der 82. Minute eingewechselt – unter Applaus. Den hatte es auch schon bei seiner Präsentation gegeben. "Die Reaktionen waren sehr positiv. Ich sehe bei Heimspielen sehr viele Jerome-Boateng-Trikots, die getragen werden", so OÖN-Journalist Harald Bartl. Einen stillen Protest könne er aber nicht ausschließen. Das österreichische Fußball-Magazin "90minuten" veröffentlichte Ende August ein Ranking der beliebtesten Trikots der Bundesligisten. Laut LASK ist das Trikot von Jerome Boateng ihr Verkaufsschlager [90minuten.at].
Auswärts fallen die Reaktionen auf Boateng anders aus. Die Anhänger von Austria Wien pfiffen den Innenverteidiger beim Bundesliga-Spiel am 25. August aus und riefen "Frauenschläger", als er eingewechselt wurde. "Es wurde am Tag des Spiels in den Wiener Medien sehr stark thematisiert", sagt Bartl. Auch bei Auswärtsspielen bei Rapid Wien oder Sturm Graz rechne er mit ähnlichen Reaktionen. Doch: "Es gibt dann zahlreiche Vereine, die deutlich kleiner sind, da ist das Publikum auch anders."
Boateng selbst äußerte sich Ende August erstmals zu den Pfiffen: "Die Reaktionen auswärts, dass da gepfiffen wird, das bin ich gewohnt, das hat es ja früher mit den Bayern gegeben. Das macht nichts mit mir, außer mich zu motivieren", so der 36-Jährige in einem OÖN-Interview. Und weiter: "Warum soll ich nicht mehr Fußball spielen dürfen? Ich kenne keine Begründung dafür."
Es ist eine Frage, die bleiben wird. In Linz ist sie jedoch aus dem Fokus gerückt. Der LASK steht nach drei Punkten aus fünf Spielen auf dem vorletzten Tabellenplatz. "Das Thema Boateng ist mittlerweile der sportlichen Misere des LASK ein bisschen gewichen", sagt Bartl.
In der Regel berichtet rbb|24 nicht über Suizide oder Suizidversuche. Ausnahmen machen wir nur bei besonderen Umständen.
Sollten Sie selbst Selbsttötungsgedanken haben, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Es gibt Hilfsangebote vor Ort, telefonisch, per Chat oder Mail. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar, auch anonym. Telefon: 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222.
Weitere Kontaktmöglichkeiten finden Sie auf telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden zudem Hilfe bei der "Nummer gegen Kummer" unter 116 123, Eltern unter 0800 1110550.
Beitrag von Lynn Kraemer
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