Heimbilanz, Verletzungspech, einfache Fehler
Hertha BSC will im zweiten Zweitligajahr unbedingt zurück ins Oberhaus. Doch auch unter Neu-Trainer Cristian Fiél kommen die Berliner nicht so richtig in Schwung. Die Faktoren für den Stotterstart sind so zahlreich wie klar. Von Marc Schwitzky
"Wir wollen zu den Mannschaften zählen, die oben dabei sind." Klar und bestimmt lautete die Ansage von Hertha-Sportdirektor Benjamin Weber Anfang August. Das war kurz nach dem Saisonstart in der zweiten Liga. "Sechs, sieben, acht" Teams sah er um die Aufstiegsplätze konkurrieren. Da also gehörte Hertha noch dazu. Das war vor mehr als zwei Monaten.
Nach nunmehr acht Spieltagen aber droht Hertha den Anschluss nach "oben" zu verlieren. Mit elf Punkten trennen die Berliner bereits fünf Zähler von Platz drei und zwei, sechs Punkte sind es auf Tabellenführer Fortuna Düsseldorf. Zwar ist nach acht Spieltagen noch keine Mannschaft auf- oder abgestiegen, doch ein Trend ist klar zu erkennen und dessen Botschaft ist: Verbessert Hertha seine Punkteausbeute in den kommenden Wochen nicht signifikant, könnten die Aufstiegsränge bereits in unerreichbare Weite rücken.
Auch wenn bei der "alten Dame" unter Trainer Cristian Fiél, der im Sommer neu übernahm, bei weitem nicht alles schlecht ist, gibt es gleich mehrere Baustellen, die der Hauptstadtklub angehen muss, um im Aufstiegsrennen zu bleiben.
Auswärts liegt Hertha BSC voll auf Kurs. Nach vier Spielen in der Fremde haben die Berliner acht Punkte auf dem Konto. In der Auswärtstabelle liegt Hertha derzeit auf Rang drei. Es ist die Heimbilanz, die den Blau-Weißen große Sorgen bereitet.
"Wenn du dir die Spiele anguckst, siehst du die ein oder andere Situation, die wir auswärts besser lösen als bisher zu Hause", erklärt Trainer Fiél, der jedoch auch ratlos zu sein scheint, woran diese Diskrepanz liegt. Hertha hat bislang nur eins von vier Heimspielen gewonnen, die anderen drei Partien im Olympiastadion wurden allesamt verloren - Platz 15 in der Zweitliga-Heimtabelle.
Herthas Kapitän Toni Leistner hatte in den vergangenen Wochen die Mutmaßung geäußert, dass das Problem darin bestehen könnte, dass sich vor allem die jungen Spieler vor heimischem Publikum selbst größeren Druck machen und dadurch in den Spielen verkrampfen. Jene Blockade gilt es zu lösen, um eine echte Serie starten und oben angreifen zu können.
Etwas, das Hertha nur bedingt beeinflussen kann, was allerdings große Auswirkungen auf den Saisonstart hatte, ist das immense Verletzungspech. Trainer Fiél hatte bislang kaum eine Chance, eine echte Achse nach seinen Vorstellungen aufbauen zu können, da immer wichtige Spieler durch Verletzungen ausgebremst wurden. Schlüsselspieler Fabian Reese konnte noch keine Pflichtspielminute unter Fiél absolvieren, da er seit dem Vorbereitungsspiel gegen Energie Cottbus verletzt fehlt, Neuzugang Kevin Sessa verletzte sich damals ebenfalls in jener Begegnung und kommt erst jetzt in Fahrt.
Hinzu kommen die Verletzungen von John Anthony Brooks, Linus Gechter, Jeremy Dudziak, Michal Karbownik, Marten Winkler und Diego Demme, die seit Saisonstart allesamt in unterschiedlichen Phasen wochenlang fehlten oder aktuell nicht zur Verfügung stehen. Darunter leidet die Eingespieltheit und somit Konstanz. Will Hertha dauerhaft oben mitspielen, muss der Verein hoffen, in den kommenden Wochen und Monaten deutlich weniger Verletzungspech zu erleiden und auf einen Großteil des Kaders zurückgreifen zu können.
Eine höhere Eingespieltheit hätte vermutlich auch eine bessere Abstimmung zur Folge – besonders defensiv würde Hertha davon profitieren. Dabei lassen die Berliner derzeit sogar ligaweit nur die zweitwenigsten gegnerischen Torschüsse zu. Strukturell funktioniert die Arbeit gegen den Ball. Besonders im hohen Gegenpressing hat das neue Trainerteam bereits große Lernerfolge erzielen können.
Dennoch kassiert Hertha die siebtmeisten Gegentore der Liga. Zum einen lädt Hertha seine Gegner viel zu oft durch individuelle Abwehrpatzer ein. Haarsträubende Fehler im Spielaufbau oder das Aus-den-Augen-Verlieren des direkten Gegenspielers wirft den Blau-Weißen in nahezu jedem Spiel einen Stock in die eigenen Speichen. Hier ist eine höhere Konzentration gefragt.
Zum anderen kassiert Hertha deutlich zu viel Gegentore nach gegnerischen Standardsituationen. Es sind bereits vier Gegentreffer nach ruhenden Bällen gefallen, in einigen weiteren Szenen hatte Hertha noch Glück, dass der Kontrahent hierdurch entstandene Chancen nicht zu nutzen wusste. Selbst wenn Hertha aus dem Spiel heraus gut verteidigt, kann ein gegnerischer Standard jederzeit den Rückstand bedeuten – so ging beispielsweise die eigentlich ausgeglichene Begegnung mit Fortuna Düsseldorf nur durch zwei schläfrig verteidigte Freistöße mit 0:2 verloren. Mangelnde Abstimmung in der Übergabe der Gegenspieler bereiten Hertha hier regelmäßig große Kopfschmerzen.
Hertha gehört unter Trainer Fiél in nahezu allen Ballbesitz-Statistiken zu den besten Teams der Liga, mehrere Disziplinen führen die Berliner sogar alleinig an. Die "alte Dame" kommt spielerisch sehr verlässlich in die gegnerische Hälfte und auch ins letzte Angriffsdrittel.
Gleichzeitig produzieren die Hauptstädter bislang die zweitwenigsten Schüsse und den viertniedrigsten Exptected-Goals-Wert aller Zweitligisten. Kurzum: Hertha gelingt es bislang nicht, all die Spielkontrolle in Torgefahr umzumünzen. Hier ist vor allem die mangelhafte Entscheidungsfindung im Angriffsspiel das Problem. Hertha erspielt sich in Vielzahl gute Angriffsmöglichkeiten, kommt in die richtigen Räume, nur um dann den falschen Passweg oder nicht den benötigten Abschluss zu suchen. Die Mannschaft muss, um effizienter zu werden, mutiger die schusserzeugende Aktion forcieren - ansonsten bleibt der hohe Ballbesitz nutzlos.
Ein Problem im Spiel mit Ball ist auch die zu große Abhängigkeit von Ibrahim Maza. Das 18-jährige Eigengewächs hat sich in kürzester Zeit zu einem Schlüsselspieler im Zentrum der Berliner entwickelt, der offensiv unwahrscheinlich viel schultern muss. Der frischgebackene algerische A-Nationalspieler hat in bislang neun Pflichtspielen vier direkte Torbeteiligungen gesammelt und hat weitere Treffer eingeleitet.
So herausragend Mazas bisherige Leistungen sind, so besorgniserregend ist Herthas Abhängigkeit von ihm. Erwischt er - und das ist mit 18 Jahren naturgemäß - mal keinen guten Tag, wird Hertha auf einen Schlag deutlich ungefährlicher. Mitspieler wie Michael Cuisance oder Sessa müssen künftig noch präsenter werden und die Offensivleistung noch mehr mitschultern - auch um die Mannschaft weniger berechenbar zu machen.
Doch auch das Mittelfeldzentrum allein kann Hertha nicht retten. Auch der Sturm muss sich in den kommenden Wochen sichtlich steigern, allen voran der Mittelsturm. Seit dem Abgang von Vorsaison-Torschützenkönig Haris Tabakovic klafft ein gewisses Loch in der Berliner Angriffsspitze.
Luca Schuler hatte gegen Kaiserslautern zwei Tore erzielt und somit Hoffnungen geschürt, die er seitdem torlos wieder enttäuscht. Die Konkurrenz aus Florian Niederlechner und Smail Prevljak hat zwar jeweils auch schon getroffen, doch alle drei haben sich bislang in keinen Rausch schießen können.
Wie wichtig ein klarer Knipser als offensive Lebensversicherung ist, zeigt Herthas Konkurrenz. Köln, Magdeburg, Paderborn, Karlsruhe und der Hamburger SV stellen allesamt Stürmer mit vier Ligatreffern oder mehr – Herthas bester Schütze ist bislang Mittelfeldspieler Cuisance mit drei Buden. Für eine echte Serie wird Fiél einen treffsicheren Torjäger brauchen.
Zu viele einfache Gegentore und individueller Fehler, immens viele vielversprechende Angriffe auf frustrierende Art verschludert, eine zu naive Zweikampfführung - viele der bislang benannten Themen zahlen darauf ein, womit bei einer so jungen Mannschaft, wie Hertha sie hat, zu rechnen ist: Es fehlt an Reife. Hertha hatte in der Mehrzahl der bisherigen Saisonspiele einen guten Spielplan und die besseren spielerischen Ansätze, doch fehlende Konsequenz, Robustheit und Cleverness haben zahlreiche Punkte gekostet. "Kopfsache", wie Kapitän Leistner findet.
Viele gegnerische Angriffe könnten durch taktische Fouls frühzeitig beendet werden und viele eigene Angriffe könnten durch bessere Entscheidungen erfolgreich zum Abschluss gebracht werden. Hertha belohnt sich für gute Phasen mangels Effektivität viel zu wenig und lädt den Gegner auf teils unerklärliche Weise ein.
Hertha hat eine klare Spielphilosophie und einen der talentiertesten Kader der Liga - nur hilft all das nicht, wenn das Ergebnis fehlt. Und das gelingt in der 2. Bundesliga auch oft genug dadurch, die schlauere, abgezocktere Mannschaft zu sein. Hier muss Hertha derzeit noch zu viel Lehrgeld zahlen. Die Frage ist nur: Wie lange darf sich ein sportlich so ambitionierter und wirtschaftlich so geplagter Verein solch einen Lernprozess erlauben?
Sendung: rbb Der Tag, 18.10.2024, 18 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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