Abschied vom e.V.?
Scheinbar alternativlos: Präsident Dirk Zingler will über eine neue Rechtsform des eingetragenen Vereins Union Berlin nachdenken. Dabei sollen Gemeinnützigkeit und Mitbestimmung erhalten bleiben. Ist das möglich? Von Shea Westhoff
In einer Fußballbranche, die sich zunehmend aufs Protzen und Funkeln versteht, vermittelt der 1. FC Union Berlin das Gefühl von Bodenständigkeit. Selbst nach der wilden Achterbahnfahrt der Spielzeit 2023/2024, die der Klub samt teuren Zugängen in der Champions League begann und gerade so mit dem Bundesliga-Klassenerhalt beendete, wird Union von vielen mit Bescheidenheit in Verbindung gebracht.
Union Berlin: der familiäre Verein, dessen Mitglieder einst sogar beim Stadionumbau mitanpackten. Dieses Selbstverständnis - manchmal als Wagenburg-Mentalität verunglimpft - hegen und pflegen sie bei den "Eisernen".
Diesen Hintergrund muss man sich unbedingt vergegenwärtigen, wenn man nachvollziehen will, welche Wucht der neuerliche Vorstoß von Dirk Zingler in Köpenick entfaltet haben muss, wo sie stolz darauf sind, dass jedes Mitglied für die Geschicke beim 1. FC Union Berlin ein kleines bisschen mitverantwortlich ist. Der Präsident des eingetragenen Vereins will über eine Neusortierung der Klubstruktur nachdenken. "Angesichts der wirtschaftlichen Dimensionen, die wir inzwischen erreicht haben, stellt sich die Frage, ob der eingetragene Verein für unsere Organisation auf lange Sicht noch die richtige Rechtsform ist", sagte der 60 Jahre alte Funktionär auf der Mitgliederversammlung Anfang Oktober.
Die wirtschaftlichen Dimensionen, von denen Zingler spricht, sind in der Tat von anderen Vertretern der schillernden Fußball-Branche nur noch wenig zu unterscheiden. In der vorangegangenen Spielzeit erzielte der Verein einen Rekordumsatz von 186 Millionen Euro.
Folgende Annahme schwingt mit, wenn Zingler dazu auffordert, über eine neue Rechtsform nachzudenken: Der teilweise schwerfällige Formalitäten-Fetisch des Vereinslebens und dessen langwierigen Entscheidungsprozesse würden sich nur schwer mit der flüchtigen Funkel-Welt des Fußballs vertragen. Tatsächlich haben deswegen bereits in den vergangenen gut 20 Jahren die meisten großen und größeren Klubs ihre Profiabteilungen in eine andere rechtliche Einheit überführt, sprich: ausgegliedert.
Das letzte Mal, dass ein reiner e.V. deutscher Meister wurde, war (na, wer weiß es?), genau, im Jahr 2007 der VfB Stuttgart – bevor einige Jahre später auch der Schwabenklub seine Profiabteilung ausgliederte, in seinem Fall in eine Aktiengesellschaft.
Kritik am Rechtsform-Stückwerk der Bundesligisten gibt es gerade seitens der organisierten Fanszene reichlich, dazu später mehr. Gleichzeitig lassen sich genug nachvollziehbare Gründe für eine überarbeitete Klubstruktur finden.
So müssen beim e.V. alle Abteilungen, etwa der Kinder- und Jugendbereich, für mögliche Finanzrisiken der Profiabteilungen geradestehen. "Wenn ein Verein aufgrund seines Geschäftsgebarens im Profifußball vor der Insolvenz steht, ist auch der ganze gemeinnützige Bereich gefährdet", sagt Ökonom Christoph Breuer, Professor für Sportmanagement an der Deutschen Sporthochschule Köln.
Im Gegensatz zu Kapitalgesellschaften können Vereine nicht so einfach Rücklagen bilden - sie sollten dafür ein konkretes gemeinnütziges Vorhaben ausweisen können. "Man kann nicht automatisch jedes Jahr Geld in größerem Umfang zurücklegen, um beispielsweise für Umsatz-Rückgänge aufgrund einer weiteren Pandemie gerüstet zu sein", so Breuer.
Und: Kapitalgesellschaften können flexibler auf mögliche Überschuldungen reagieren, weil es ihnen häufig "einfacher und besser gelingt, Eigenkapital zu generieren und auch häufig sogenanntes Fremdkapital zu akquirieren", sagt der Ökonom.
Ein Fußballklub folgt jedoch anderen Gesetzmäßigkeiten als die meisten mittelständischen Unternehmen. "Die Fans sind nach wie vor die Basis jeglicher Wertschöpfung im Profifußball", sagt Breuer. Daher sieht er das Hauptrisiko in einer "nicht überbrückbaren Distanz zu den Fans", die durch eine Neustrukturierung entstehen könnte.
"Wenn der Rechtsraumwandel kommunikativ nicht so gewährleistet wird, dass die Mehrheit der Mitglieder dahintersteht, dann besteht ein entsprechendes Risiko."
Allerdings wäre Dirk Zingler nicht Präsident von Union Berlin, wenn seine Idee nicht auch zumindest die Hintertür für eine kreative Lösung - eine Unioner Lösung - offenließe. Zingler lud also dazu ein, dass sich alle Mitglieder an Überlegungen zu der Frage beteiligen, "ob andere Rechtsformen sowohl die Gemeinnützigkeit als auch den aktuellen Stand an Mitbestimmung ebenfalls sicherstellen" - und gleichzeitig eben zusätzliche unternehmerische Möglichkeiten eröffnen könnten.
Während die weiterhin angestrebte "Gemeinnützigkeit" ein eher schwammiger Begriff ist, wird es bei der Mitbestimmung konkret: Jeder Unioner und jede Unionerin soll weiterhin ein Mitspracherecht haben.
Der Grad der Partizipation steht laut Breuer dabei nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit dem gewählten Rechtsmodell, wie GmbH oder AG. Entscheidend sei, "wie viel der möglichen Anteile von Gruppen außerhalb des e.V. in Besitz genommen werden und unter welchen Bedingungen."
Als Faustregel gilt: Je kleiner die veräußerten Anteile sind und je größer die Menge an Anteilseignern ist, umso eher kann das Modell einer Kapitalgesellschaft partizipativ ausgestaltet werden.
Dies sind die gängigen Rechtsformen im deutschen Profifußball:
"Die GmbH sieht vor, dass die Profiabteilung von verschiedenen Gesellschaftern – man könnte auch sagen Investoren - bedient wird", erklärt Breuer. Eine GmbH ist derzeit weitgehend bei den Bundesligisten vorzufinden, die für eine große Unternehmensnähe bekannt sind: etwa der VfL Wolfsburg, RB Leipzig und Bayer Leverkusen. "Die Frage ist, wer nimmt wie Einfluss auf die Geschäftsführung der GmbH", sagt Breuer in Bezug auf das Mitspracherecht. "Die aktuellen Beispiele in der Bundesliga legen nur sehr geringe Mitsprachemöglichkeit von Mitgliedern und Fans nahe. Auch, weil Wolfsburg und Leverkusen Ausnahmen von der 50+1-Regelungen darstellen und Leipzig die rechtliche Umsetzung recht einseitig im Sinne von Red Bull ausgestaltet hat. Prinzipiell denkbar wären aber auch GmbH-Lösungen mit einer breiteren Streuung von Mitsprache."
"Der zentrale Unterschied dieser Gesellschaftsform gegenüber der einfachen GmbH ist, dass der Klub noch mehr Anteile als 49,9 Prozent veräußern kann an Externe, aber dennoch die 50+1-Regelung einhält und gleichzeitig – zumindest formal – den dominanten Einfluss auf die Geschäftsführung der GmbH und Co. KG aA innehat", so Breuer. Zu beobachten etwa beim Unioner Stadtrivalen Hertha BSC: Kommanditaktionär 777 Partners hält 78,8 Prozent der Anteile und als haftende Komplementärin fungiert die Hertha BSC Verwaltung GmbH mit den Geschäftsführern Thomas E. Herrich und Ralf Huschen.
Die Profiabteilungen des FC Bayern München, Eintracht Frankfurt und des VfB Stuttgart sind Eigentum einer Aktiengesellschaft. Während man die Aktien von Borussia Dortmund an der Börse erwerben kann, ist das etwa beim FC Bayern nicht möglich. Werden die Aktien an der Börse gehandelt, unterliegen die entsprechenden Bundesligisten einer strengen Transparenzpflicht, was ihre Finanzberichterstattung angeht.
Bei der gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung ("gGmbH") stellt sich für Christoph Breuer die entscheidende Frage, ob die Gemeinnützigkeit eines Fußballunternehmens auch vor Gericht überzeugen könnte. "Da kenne ich noch keinen Fall, wo das ernsthaft angegangen und tatsächlich gelungen ist."
Die Genossenschaft ist ein neuer Begriff im Profifußball, der auch bei anderen Klubs wie FC St. Pauli und dem FC Schalke 04 kursiert. "Wenn man da genau hinschaut, geht es aber nicht um die Ausgliederung der Profiabteilung, sondern es geht um Tochtergesellschaften, die sich mit der Stadionvermarktung befassen", sagt Breuer. Die Genossenschaft in eine Profiabteilung zu implementieren, sei allerdings kompliziert. Denn bei dieser Rechtsform hat jeder die gleiche Stimme – egal, ob jemand das fünf- oder zwanzigfache an Genossenschaftsanteilen erworben hat. "Wenn jeder unabhängig vom Anteil die gleiche Stimme hat, kann nicht gewährleistet werden, dass der e.V. als Mutterverein mindestens 50% der Stimmen hält - sondern er hätte eben auch nur eine Stimme. Somit ist das Modell Stand heute nicht 50-plus-1-konform."
In weiten Teilen der aktiven Fanszene sieht man ohnehin jedes Rütteln am Konzept des e.V. mit Skepsis. Für Thomas Kessen, Sprecher des Dachverbandes der organisierten Fans "Unsere Kurve", ist der gute, alte eingetragene Verein in den Wirren des Profifußballs nach wie vor der "Königsweg, um einen möglichst hohen Grad an Partizipation für das einzelne Mitglied bei allen den Vereinen betreffenden Entscheidungen zu ermöglichen."
Den Vorstoß von Dirk Zingler hält er für das übliche Spiel von Funktionären, die eine neue Rechtsform anstreben. "Das ist das gern genommene Argument: 'Wir haben uns weiterentwickelt, und wir brauchen im Fußball mehr Geld, und mehr Geld kriegen wir nur, indem wir ausgliedern, damit sich Firmen beteiligen können' und so weiter", sagt Kessen.
Grundsätzlich sieht er es so: "Wenn jemand nur aus Kapitalinteresse, sprich Rendite, mitreden will, dann steht das diametral den Werten von Fans und Mitgliedern entgegen." Fußball sei kein reines Geschäft, das rein der kühlen Marktlogik folge. Den Sport sieht er als soziokulturelles Phänomen, das für die Fans oft losgelöst sei von sportlichem oder wirtschaftlichem Erfolg. "Und das beißt sich oftmals mit den Interessen von Kapitalgebern."
Er empfiehlt den Mitgliedern von Union Berlin daher, beim von Dirk Zingler angestoßenen Prozess "sehr genau hinzuschauen". Kessen findet: "Da gibt es in Fußballdeutschland mittlerweile Ausgeburten, die nennen sich dann zwar noch e.V., faktisch ist da aber nicht mehr viel mit Demokratie."
Beitrag von Shea Westhoff
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