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Analyse | Hertha verliert in Darmstadt
Wieder eine Niederlage für Hertha BSC, wieder war die Leistung keinesfalls schlecht. Das verschenkte Potenzial und die wiederkehrenden Probleme gegen den SV Darmstadt stehen sinnbildlich für die Stolpersteine der bisherigen Saison. Von Marc Schwitzky
Ein Angriff wie ein Gedicht. Hertha BSC baut in der 21. Minute das Spiel beginnend bei Torhüter Tjark Ernst auf. Berlins Keeper lockt die Angreifer des SV Darmstadt auf dem Ball stehend an, wartet, bis jene sich für ein erstes Pressing vorwagen. Als dies passiert, spielt Ernst den Ball rechts im Strafraum zu Pascal Klemens, der die Kugel annimmt und sie direkt zwischen zwei Darmstädter hindurch auf den tief entgegengekommenen Kevin Sessa weiterleitet. Der Mittelfeldspieler benötigt ebenfalls nur zwei Kontakte, um den Ball mehrere Meter vertikal zu Ibrahim Maza zu passen.
Innerhalb von wenigen Sekunden sind damit bereits vier Gegenspieler überspielt, so dass Maza viel Wiese vor sich hat. Herthas Eigengewächs trägt den Ball über die Mittellinie und spielt ihn weiter auf Linksaußen Derry Scherhant. Der Angreifer hat aufgrund der Direktheit des Vorstoßes nur noch den gegnerischen Außenverteidiger vor sich, läuft mit Tempo auf diesen zu und letztendlich im Strafraum an ihm vorbei. Scherhants flache Hereingabe findet den lauernden Florian Niederlechner, der zur 1:0-Führung einschiebt.
Es ist der perfekte Angriff. Eine herausragende Symbiose aus direktem Spiel, idealer Passschärfe und einstudiertem Positionsspiel – Gegner Darmstadt hat wenig bis nichts entgegenzusetzen. Es ist ein Angriff, der Herthas großes Potenzial aufzeigt und somit gleichzeitig die Frage aufwirft: Warum denn nicht immer so?
"Wir sind super reingekommen, haben unseren Plan wie gewollt umgesetzt und die verdiente Führung erzielt", befand Hertha-Trainer Cristian Fiél nach dem Spiel. Der Berliner Übungsleiter hatte die anspruchsvolle Aufgabe, drei Ausfälle zu kompensieren. Marton Dardai fehlte gelbgesperrt, Kapitän Toni Leistner und Defensiv-Allrounder Michal Karbownik gesellten sich nach der Niederlage gegen den 1. FC Köln zum bereits prall gefüllten Lazarett des Hauptstadtklubs. Fiél musste durch insgesamt neun Ausfälle improvisieren und mit Klemens, Jonjoe Kenny und Deyovaisio Zeefuik eine Dreierkette darbieten, die es in jener Form wohl nie wieder geben wird.
Doch trotz der ungewohnten Zusammenstellung der Startelf legten die Blau-Weißen eine überaus starke erste halbe Stunde hin, in der auch der Führungstreffer fiel. Mit Ball setzten die Berliner immer wieder gute Nadelstiche, aus denen mehr als nur ein Tor hätte entstehen können. Gegen den Ball verteidigte Hertha, das beinahe nur aus offensivdenkenden Spielern bestand, sehr griffig und mutig. "Es war wichtig, dass wir Darmstadt nicht das Zentrum überlassen. Das haben wir in der ersten Halbzeit super gemacht", erklärt Fiél.
Trotz der vielen fehlenden Spieler wurde das Potenzial der Hertha-Mannschaft über 30 Minuten klar ersichtlich: Ist Hertha voll bei sich, ist die "alte Dame" in der 2. Bundesliga spielerisch kaum aufzuhalten und defensiv mindestens ordentlich. Dann bereiten die Hauptstädter jedem Gegner in der Liga große Probleme, auch formstarken Darmstädtern. "Am Ende haben dann einfach die Tore gefehlt", bilanzierte Palko Dardai nüchtern.
Und so endete Begegnung trotz allerlei guten Ansätzen mit einer 1:3-Niederlage für Hertha. Die Gründe dafür sind vielschichtig und begleiten die Berliner schon die gesamte Saison.
Zum einen sorgen anhaltende personelle Probleme dafür, dass sich keine Stammelf einspielen und dadurch an Sicherheit wie Konstanz gewinnen kann. Fehlende Feinabstimmung sorgt immer wieder dafür, dass Hertha innerhalb von Spielen immer wieder früher oder später ins Straucheln gerät – auch weil Druckphasen weniger resilient überstanden werden. Als Darmstadt taktisch umstellte und erste Angriffswellen startete, war zu erkennen, wie jeder Vorstoß etwas vom Berliner Selbstvertrauen abtrug. So gerät Hertha – wie auch am Samstagmittag gesehen – oft in Phasen der Passivität, das eigene Spiel wird nicht mehr konsequent und mutig durchgebracht. Das Selbstverständnis fehlt, Fiéls geforderter Fußball verwässert.
Das liegt auch an der fehlenden Reife des Hertha-Kaders. Derzeit fehlen mit Fabian Reese, Toni Leistner, Diego Demme, Jeremy Dudziak und John Anthony Brooks gleich mehrere erfahrene Spieler, die Verantwortung übernehmen und vorangehen. Dazu brachen mit Marc Oliver Kempf und Haris Tabakovic kurz vor Ende der Transferperiode, also mitten in der Saison, zwei eingeplante zentrale Säulen weg. Linus Gechter und Karbownik sind ebenfalls wichtige Faktoren im System Fiél.
Durch die vielen Verletzungen ist es dem Trainerteam bislang nicht gelungen, eine neue stabile Achse zu bauen. Meist müssen überaus junge Spieler wie Scherhant, Maza, Klemens oder Ernst Verantwortung übernehmen, doch den Profi-Neulingen fehlt naturgemäß noch die Beständigkeit in ihren Leistungen.
Und so gelang es auch in Darmstadt nicht, das zunächst gezeigte Niveau zu halten. "Man sieht, dass die Jungs investieren und versuchen, alles umzusetzen und Spiele zu gewinnen. Heute war die ein oder andere Situation nicht auf unserer Seite", zeigte sich Fiél verständnisvoll. "Wir haben kein schlechtes Spiel abgeliefert, aber hatten in den entscheidenden Aktionen nicht das nötige Glück – so zum Beispiel bei dem aberkannten Treffer", pflichtete Palko Dardai bei.
Ist im Vorhinein klar, dass man den Gegner nicht über 90 Minuten dominieren kann, wird es nebst Leidensfähigkeit auch etwas Glück und einen gut aufgelegten Torhüter brauchen, um das Spiel mit einem Punktgewinn beenden zu können – beides hatte Hertha am 12. Spieltag nicht. Der 1:1-Ausgleich kurz vor der Halbzeitpause war ein zweifach abgefälschter Distanzschuss, der höchst unglücklich seinen Weg ins Tor fand. Torhüter Ernst hatte hier keine Chance, sah aber bei den beiden folgenden Gegentoren alles andere als gut aus. Beim 2:1 hätte er seinen körperlich unterlegenen Aushilfsinnenverteidiger Kenny unterstützen müssen, indem er die hineinsegelnde Flanke durch ein bemühtes Herauslaufen hätte abfangen oder zumindest den köpfenden Torschützen stören müssen. Der Distanztreffer aus 25 Metern zum 3:1-Endstand war schlichtweg haltbar, Ernst hätte parieren müssen.
Zuerst hatte Hertha kein Glück, als der vermeintliche Treffer von Jon Dagur Thorsteinsson zur 2:1-Führung Herthas in der 51. Minute aufgrund einer minimalen Armberührung des Balles annulliert wurde. Und dann kam auch noch Pech bei den Gegentreffern und dem rabenschwarzen Tag Ernsts hinzu. Die Leiden des jungen Torwarts – und der "alten Dame".
Die Niederlage in Darmstadt hat zwei Dinge gezeigt, die Hertha bereits die gesamte Saison begleiten: Die spielerische Anlage unter Trainer Fiél funktioniert grundsätzlich und blitzt – wie beim 1:0-Treffer – immer wieder auf; allerdings reichen jene Ansätze oft nicht aus, um ein Spiel über einen entscheidenden Teil der Spielzeit für sich gestalten zu können. Durch mangelnde Konstanz, fehlende Effizienz vor dem Tor und zu einfache Gegentreffer stellt sich Hertha immer wieder selbst ein Bein. Das Leistungsintervall ist derzeit noch zu groß.
Für jenen Spiel- und Saisonverlauf gibt es klar ersichtliche und logische Erklärungen. Erklärungen, die es schwer machen, Mannschaft und Trainerteam einen Strick daraus zu drehen – doch all das wird beinahe schon nebensächlich, wenn die Ergebnisse zu oft ausbleiben und die angepeilten Aufstiegsränge in weitere Ferne rücken. Hertha steckt in dem Dilemma, Zeit für eine natürliche Entwicklung zu benötigen, aber durch sportlich-wirtschaftlichen Druck keine Zeit zu haben.
So kommt die Länderspielpause gerade gelegen, Hertha hat sich in die Saisonunterbrechung geschleppt. "Bei dem einen oder anderen hat man heute gesehen, dass er auf der letzten Rille läuft", so Fiél am Samstagnachmittag. "Deshalb müssen wir die Länderspielpause jetzt gut planen. Dem einen oder anderen etwas Ruhe gönnen, um dann nächste Woche wieder Vollgas aufs nächste Spiel zu gehen." Vollgas wird nötig sein, um die Konkurrenz nicht davonfahren zu lassen.
Sendung: rbb UM6, 10.11.2024, 18 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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