Alessandro Zanardi beim Handbike-Marathon
Alessandro Zanardi war Formel-1-Rennfahrer, ein Draufgänger, ein Unersättlicher. Nach einem Crash mussten ihm beide Beine amputiert werden. Doch er kämpfte sich zurück und gewann zwei paralympische Goldmedaillen. Nun startet er beim Berlin Marathon - in der Stadt, in der sein Leben gerettet wurde. Von Sebastian Schneider
Da vorne liegt er, erste Reihe links, weißer Helm, Startnummer H6. Den Blick zum Himmel, den Rücken eine Handbreit über dem Asphalt. Alessandro Zanardi ist sein Leben lang Rennen gefahren. Heute hat sein Wagen drei Räder. Er treibt ihn mit den Händen an. 8:43 Uhr, die Luft riecht frisch und sauber. Die Musik dröhnt so laut, dass die Absperrgitter vibrieren. Der Bürgermeister gibt den Startschuss - Zanardi kurbelt los. Er ist zurück in Berlin. Der Stadt seiner zweiten Geburt.
Alessandro wächst in einem Dorf in der Nähe von Bologna auf. Er ist ein wilder Junge, der ständig mit Schrammen, Beulen und blauen Flecken herumläuft. Geschickt mit den Händen, faul in der Schule, schlecht im Sport. Seine ältere Schwester Cristina schafft viel bessere Noten, sie schwimmt so gut, dass sie sich für die Olympischen Spiele qualifizieren will. Er leidet darunter, dass seine Eltern ihn immer mit ihr vergleichen. Ich kann gegen sie unmöglich bestehen, denkt er.
Eines Abends sitzt Cristina im Fiat eines Freundes. Als sie an einer Tankstelle vorbeirauschen, zieht plötzlich ein Wagen auf die Fahrbahn. Zanardis Schwester ist sofort tot. Ein paar Wochen später setzt er sich das erste Mal in ein Gokart. Er ist 13 Jahre alt. "Nach ein paar Runden wusste ich: Das ist es, womit ich mein Leben verbringen will", sagt er.
Zanardi rast die Straße des 17. Juni entlang, großer Kreisel, vorbei an der Siegessäule. In der Goldelse spiegelt sich die Morgensonne. Der 48-Jährige ist einer der schnellsten Handbiker der Welt, normalerweise sitzt er aufrecht in seinem Gefährt und holt die Kraft aus seinem gesamten Oberkörper. Beim Berlin Marathon aber gibt es diese Disziplin nicht. Zanardi fährt zum ersten Mal im Liegerad. Er kann nur auf seine Arme vertrauen, sie müssen ihn 42,195 Kilometer durch die Stadt treiben.
"Wenn ich mit den Besten ins Ziel kommen würde, dann wäre ich unglaublich zufrieden", sagt Zanardi. "Er stapelt gerne tief. In Wahrheit muss man immer mit ihm rechnen", sagt einer seiner Konkurrenten. Zanardi umgreift die Kurbeln so hart, dass die Haut an seinen Fingerknöcheln inzwischen nicht mehr durchblutet wird. Er fährt am Knast von Moabit vorbei. Ihm bleibt noch eine knappe Stunde.
Zanardi schafft es als Rennfahrer bis in die Formel 1. Der Kindskopf aus Castel Maggiore ist bei seinen Kollegen beliebt, weil er sie zum Lachen bringt. Er fährt aggressiv und ohne Angst. Einmal brettert er mit seinem brennenden Wagen ins Ziel, ein andermal knallt er mit 280 Stundenkilometern in die Leitplanke – und macht am nächsten Tag einfach weiter. Mit seinen Autos hat Zanardi Pech, vielleicht ist er auch einfach nicht gut genug. Nach nur einem WM-Punkt aus 43 Rennen ist Schluss. Er wechselt in die unterklassige "ChampCar"-Serie.
Als er 34 Jahre alt ist, bittet ihn seine Frau Daniela, mit dem Motorsport aufzuhören. Sie hat Angst um ihn, weil er ständig am Limit fährt. Zwei Meisterschaften hat Zanardi mittlerweile gewonnen, doch er will noch diesen einen Pokal. Der 15. September 2001 ist ein Montag, 90.000 Zuschauer sind zum Rennen auf dem Lausitzring gekommen. 13 Runden vor Schluss liegt Zanardi in Führung. Er ist völlig aufgekratzt. Nach einem letzten Tankstopp schießt er mit Vollgas auf die Fahrbahn. "Ich dachte, ich hatte es geschafft", sagt Zanardi. Plötzlich verliert er die Kontrolle über sein Auto und dreht sich auf der Piste. Der Wagen hinter ihm kracht mit 320 Stundenkilometern in Zanardis Honda.
Kilometer 22, eine Kirche an der Grunewaldstraße in Schöneberg. Ein Rentner im bonbonroten Jogginganzug schaut den ersten Fahrern hinterher. Zanardi ist nicht dabei. Erst zwei Minuten später surrt er in seinem schwarzen Dreirad über den Asphalt. Er schnauft, seine Augen sind zu Schlitzen verengt, die braunen Locken verschwitzt. Zanardi trainiert jede Woche mindestens zehn Stunden lang. "Es kommt nicht so sehr darauf an, wieviel Kraft Du hast, sondern wie lange Dein Benzin im Tank reicht", sagt er.
Im vergangenen Jahr schaffte er den "Ironman" auf Hawaii in weniger als zehn Stunden. Er schwamm 3,9 Kilometer, fuhr 180 Kilometer mit seinem Handbike und danach noch einen Marathon auf seinem Rollstuhl. "Viele Sportler denken, sie müssten im Wettkampf etwas Magisches zeigen. Aber das ist Bullshit. Deine Vorbereitung bestimmt Dein Ergebnis, fertig", sagt Zanardi. Heute morgen ist er um 6.15 Uhr aufgewacht und die Strecke in Gedanken gefahren. So wie er es hunderte Male als Rennfahrer gemacht hat. Im Hotelfernseher lief der Große Preis von Japan.
Zanardis Beine sind bei dem Crash zerfetzt worden. Es war, als ob er auf eine Landmine getreten wäre, sagt einer der Notärzte später. Er verliert drei Viertel seines Blutes und muss siebenmal wiederbelebt werden. Ein Priester gibt ihm an der Rennstrecke die letzte Ölung – mit Motorenöl aus Zanardis zerstörtem Honda. 26 Minuten später landet der Rettungshubschrauber auf dem Dach des Unfallkrankenhauses in Berlin-Marzahn.
Die Ärzte operieren Zanardi siebeneinhalb Stunden lang. Seine Beine amputieren sie oberhalb der Knie. Nach acht Tagen Koma wacht er auf. Er kann sich an nichts erinnern, seine Frau sagt ihm, was geschehen ist. "Werde ich überleben?", fragt er den Arzt. Der nickt. Zanardi will wieder einschlafen. Die Schmerzen sind zu groß.
Drei Viertel der Marathonstrecke in Berlin hat er geschafft, da reißt die Kette seines Handbikes. Es sieht aus, als würde Zanardis Rennen auf dem Hohenzollerndamm enden. Er wischt die ölverschmierten Hände an seinem weißen Trikot ab - dann fährt er einfach weiter. Mit der rechten Hand stößt er eines der Hinterräder an wie bei einem Rollstuhl. Mit der linken lenkt er. "Wenn ich keine Wahl gehabt hätte, hätte ich aufgeben müssen. Aber ich hatte ja eine – warum also hätte ich stoppen sollen?", wird Zanardi später sagen und lachen. Er schiebt sich langsam voran. Noch achteinhalb Kilometer - Handschuhe trägt er nicht.
Die Prothesen drücken. Das Laufen auf ihnen fällt ihm viel schwerer, als er erwartet hatte. Aber die Ärzte erstaunt, dass ihr Patient nur selten darüber redet, was er nicht mehr tun kann – sondern lieber erzählt, was er noch alles vorhat. Dauernd zieht er sie mit seinen Sprüchen auf. Es ist sein Weg, das Schwere leicht zu nehmen. Knapp zwei Jahre nach seinem Crash kehrt Zanardi zurück an den Lausitzring. Mit einem umgebauten Auto fährt er die fehlenden 13 Runden seines Rennens. 50.000 Menschen jubeln ihm zu. In den Jahren danach steuert er Tourenwagen für BMW und holt vier Siege – als erster beinamputierter Fahrer.
2007 schlägt ihm ein Freund vor, das Handbike auszuprobieren. Zanardi beginnt eine zweite Karriere. Im November 2011 triumphiert er beim Radrennen des New-York-Marathons. Knapp ein Jahr später gewinnt er zweimal Gold und einmal Silber bei den Paralympischen Spielen in London. "Das Wichtigste, das ich gelernt habe, ist: Im Leben passiert nichts von selbst. Du kannst noch so viel Zucker in Deinem Kaffee haben. Wenn Du ihn nicht umrührst, bleibt er eben bitter", sagt Zanardi.
Auf den Tribünen klatschen die Zuschauer, die ersten Fahrer rollen ins Ziel. Aber wo zum Teufel steckt er nur? Seine Frau weiß es nicht, seine Presseleute wissen es nicht, nicht mal die Rennleitung weiß es. Nach einer Stunde und 50 Minuten biegt Alessandro Zanardi auf die letzte Gerade vor dem Brandenburger Tor. Er grinst, als hätte er dem Lehrer die Schnürsenkel zusammengebunden. Jedem Menschen an der Strecke scheint er persönlich zu winken. Als 72. Fahrer überquert er die Linie. "Ich bin mit einem Handbike gestartet und mit einem Rollstuhl ins Ziel gekommen", sagt Zanardi.
Er freut sich wie ein kleiner Junge, als ihm ein Helfer seine Medaille umhängt. Am Himmel knattert ein Fernsehhubschrauber. In zwei Wochen will Zanardi wieder beim "Ironman" starten, 2016 zu den Paralympics in Rio. "Ich muss schauen, dass ich in diese wenigen Jahre so viel wie möglich packe", sagt er. Was wird er tun, wenn er sich eines Tages nicht mehr sportlich messen kann? "Keine Ahnung, mein Freund. Ich bin zu jung, um darüber nachzudenken."
Er spreche nicht gern von einem "zweiten Leben", das die Ärzte ihm geschenkt hätten, hat Zanardi kurz vor dem Rennen gesagt. "Es ist mein erstes Leben, ich bin derselbe Kerl, und ich bin dankbar dafür". Er nimmt seine Frau an der Hand und rollt leise davon.
Reportage vom 28. September 2015: Nominiert für den Deutschen Reporterpreis
Beitrag von Sebastian Schneider, rbb|24
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