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Quelle: dpa/Moti Milrod

Interview | Cottbuser in Tel Aviv

Bei Alarm ins Treppenhaus, weil der Bunker zu weit weg ist

Der Cottbuser Eylem Kaygusuz will in Israel gemeinnützig arbeiten - dann greifen die Hamas an. Nun muss er sich vor Raketenbeschuss in Sicherheit bringen. Im Interview berichtet er, was das mit der Stadt Tel Aviv und mit ihm persönlich macht.

Der Cottbuser Eylem Kaygusuz ist mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in Israel, genauer in Tel Aviv. Dort will er sich im Rahmen der ASF-Arbeit ein jahr lang gemeinnützig engagieren, kümmert sich beispielsweise um Holocaust-Überlebende. Nach dem Angriff der Hamas auf zahlreiche Ziele in Israel muss der 19-Jährige seine Pläne ändern.

rbb|24: Herr Kaygusuz, Sie sind gerade für einen Freiwilligendienst in Israel. Was genau machen Sie da und warum in Israel?

Eylem Kaygusuz: Ich wohne jetzt seit zwei Wochen in Tel Aviv, bin aber schon seit einem Monat in Israel, weil wir die ersten zwei Wochen in Jerusalem verbracht haben. Dort haben wir ein Vorbereitungsseminar für dieses Jahr gemacht. Da haben wir Jerusalem kennengelernt und haben natürlich auch darüber geredet, wie es hier im Ernstfall abläuft. Also welche Mechanismen einsetzen, welche Leute für uns verantwortlich sind.

Jetzt bin ich seit zwei Wochen in Tel Aviv, habe mich hier eingelebt und arbeite in zwei Projekten. Ich arbeite einerseits in der Wiener Bibliothek, das ist ein großes Archiv, eine Forschungsbibliothek, die sich vor allem auf den Holocaust bezieht und ihn dokumentiert. Und dann habe ich noch ein anderes Projekt bei einer Organisation, die Holocaust-Überlebende betreut, die nach Israel gekommen sind und Hilfe benötigen. Das sind keine pflegerischen Maßnahmen, ich verbringe einfach Zeit mit ihnen. Gut ein Jahr wollte ich das machen, der 31. August 2024 wäre mein Ausreisetag gewesen.

Wenn man nach Israel geht, gerade für ein Jahr, weiß man, wohin man geht. Wie haben Sie sich auf den dortigen Konflikt eingestellt?

Ich wusste, was hier in Israel los ist, und habe mich mit dem Konflikt beschäftigt. Ich habe auch vor zwei Jahren die Bilder gesehen, als die Hamas schon einmal angegriffen haben. Damals habe ich zum ersten Mal von Iron Dome (israelisches Luftabwehrsystem, Anm. d. Red.) erfahren. Klar macht man sich Gedanken, aber für mich war immer dieses Land Israel vorrangig und nicht die Konflikte darin.

Die machen das Land auch zu dem, was es ist, aber ich wollte vor allem die Leute treffen, die unter dem Konflikt leiden. Ich habe damit gerechnet, dass es Raketenalarm geben wird, das wurde uns auch gesagt. Aber damit wurde erst im Frühjahr gerechnet, wenn die arabischen und die jüdischen Feiertage aufeinandertreffen und natürlich auch nicht in der Dimension, in der es jetzt gerade passiert.

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Wie haben Sie die ersten Raketen, die geflogen sind, erlebt?

Das war 6:30 Uhr am Samstag. Ich habe bis drei Uhr morgens mit meinen Kollegen den einen oder anderen Arak (Anisschnaps, Anm. d. Red.) getrunken und war dementsprechend müde, um dann, dreieinhalb Stunden später wieder aufzuwachen. Ich bin aufgewacht von einem lauten Geräusch und konnte das nicht einordnen. Es wurde gerade in jüdisches Fest gefeiert, ich dachte die Geräusche kamen dorther. Dann ist meine WG-Mitbewohnerin reingestürmt und hat gesagt "Eylem, Warnsirene, pack deinen Pass ein!". Dann habe ich es erst realisiert.

Ein paar Minuten später, als wir im Treppenhaus saßen, sind die ersten Raketen gekommen und man hat lautes Knallen gehört. Ich muss sagen, das war noch gemäßigt. Später gab es noch viel krassere Momente, aber die ersten zwei Momente habe ich überhaupt nicht realisiert, was da passiert. Wir dachten: Gut, Raketenangriffe, davor wurden wir gewarnt. Aber da haben wir noch nicht von diesen Dimensionen erfahren. Erst in den späteren Episoden, als es ruhiger war, haben wir verstanden, was da passiert ist.

Habt Sie sich versteckt? Waren Sie in einem Bunker? Hat das Ihre Organisation geregelt?

Nein, wir sind alle verstreut im Land, in verschiedenen Städten. Seit dem Ausbruch des Krieges sind wir eigentlich nur in unserer Wohnung und gehen nur zum Einkaufen, was auch ziemlich schwierig ist hier. Wenn es Alarm gibt, gehen wir ins Treppenhaus. Es gibt zwar einen Bunker, einen Keller mit Schutztür, aber wir wohnen ganz oben, im achten Stock. Deshalb schaffen wir es nicht, in eineinhalb Minuten zwischen Alarm und Angriff nach unten zu gehen, und verstecken uns im Treppenhaus. Wir versuchen immer bis zum sechsten Stock zu gehen, bis dahin ist das Gebäude gesichert. Die Raketen kamen bisher immer am Morgen und am Abend, deshalb konnten wir uns tagsüber gut in der Wohnung aufhalten oder einkaufen gehen.

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Wie verarbeiten Sie diese Eindrücke?

Damit beschäftige ich mich seit dem Ausbruch des Krieges. Ich weiß nicht, wie ich das kompensiere oder verarbeite, denn es sind wirklich ganz schlimme Ereignisse. Das muss ich betonen. Ich konnte gestern eine Rakete sehen, als sie abgeschossen wurde, und in unserem Viertel ist auch eine Rakete eingeschlagen. Man hört das, jedes Mal wenn Raketenalarm ist und über unserem Viertel ist, wie das Haus vibriert und wie laut das ist. Dann hatten wir vor zwei Tagen Schüsse in unserer Straße. Das macht wirklich viel Angst.

Ich schreibe sehr viel Tagebuch, schreibe alles auf, was ich hier erlebe, schaue aber auch viel Netflix, um mich abzulenken. Und ich telefoniere ganz viel mit meiner Mutter, eigentlich vier Mal am Tag, und bewerte, wie die Situation hier gerade ist. Bis gestern stand meine Entscheidung auch noch nicht auszureisen. Das hat sich heute Morgen geändert.

Warum hat sich das geändert und wann wollen Sie ausreisen?

Ich wollte nie ausreisen, weil ich hier helfen kann. Ich habe ein Blutspendeangebot angenommen und wäre auch in den nächsten Tagen nach Jerusalem gegangen, um dort in einem Haus meiner Organisation zu helfen. Das soll zu einer Stätte für israelische Geflüchtete aus dem Süden werden, dort hätte ich geholfen. Heute Morgen gab es aber einen Zoom-Call mit unserer Landesbeauftragten und dort hieß es, dass wir ausreisen müssen, mit einem der Flüge der Lufthansa, die nun von der Regierung angeordnet wurden. Die fliegen am Donnerstag oder Freitag, ich weiß noch nicht genau, wann es soweit sein wird. Wir haben eine Liste vom Auswärtigen Amt bekommen, das sollte uns eine E-Mail schicken. Ich glaube, wir müssen dann auch selbst dafür sorgen, zum Flughafen zu kommen.

Wie geht es Ihnen dabei, nun nach Hause zu fliegen. Ist es eher ein Zwang?

Ich verstehe, warum die Entscheidung von ASF so gefallen ist. das ist auch die absolut richtige Entscheidung. Ich bedanke mich auch dafür, dass die Organisation so auf unser Wohl bedacht ist. Für mich wäre es aber die schönere Lösung gewesen, in Israel zu bleiben. In dem Monat, in dem ich hier bin, hat das Land mein Herz gewonnen. Das Volk, die Israelis und auch die Palästinenser haben mein Herz gewonnen und ich will diesen beiden Völkern eigentlich gerade helfen. Ich sehe das auch als meine Pflicht an.

Können Sie denn zurückkehren, Ihr Jahr noch beenden?

Ja, auf jeden Fall. Uns wurde gesagt, dass das ein temporärer Aufenthalt in Deutschland sein wird und der Lage angemessen. Wenn über das Jahr weiter Krieg herrscht, dürfen wir wahrscheinlich nicht wieder einreisen. Sobald es die Möglichkeit gibt, werde ich die wahrnehmen. Ich habe solche Lust auf dieses Land und ich liebe dieses Land und ich möchte hier unbedingt den Freiwilligendienst beenden.

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Sie sagen, Sie denken dort an Israelis und Palästinenser. Ist der Konflikt im Alltag gar nicht so präsent?

Wenn man über diesen Krieg redet, sollte man nur über die Hamas reden. Ich finde es unfair den Palästinensern gegenüber, sie in diesen Konflikt mit einzubinden. Natürlich sind sie eingebunden, aber für mich ist es ganz wichtig, dass dieser Krieg gegen beide Zivilbevölkerungen Palästinas und Israels geführt wird. Ich bin beiden Seiten sehr zugeneigt und weil Tel Aviv eine sehr weltoffene Stadt ist, herrscht hier auch viel Sympathie zwischen Palästinensern und Israelis, so habe ich das mitbekommen. Das ist natürlich jetzt wieder abgekühlt.

Bei Raketenbeschuss und bei Schüssen in der Straße - gibt es in Tel Aviv aktuell überhaupt einen Alltag?

Tel Aviv ist die belebteste Stadt, die ich jemals erlebt habe, und es ist, als ob ein Knopf gedrückt wurde und alles steht still. Diese Stadt hat kein Leben mehr, sie ist im Koma. Alles was die Stadt ausgezeichnet hat, die Geräusche, die Tel Aviv ausgemacht haben, sind weg. Ich höre keine Musik mehr, keine Gesänge mehr. Wegen der Feiertage haben Jüdinnen und Juden hier viel gesungen, jetzt höre ich nur noch Krankenwagen und Sirenen. Man sieht auch nichts auf den Straßen. Es sind nur wenige Menschen unterwegs, die sind in sich gekehrt, versuchen ihre Einkäufe zu tätigen. Es ist nichts los, nur noch Raketen, Jets und Hubschrauber.

Wie informieren Sie sich derzeit über die aktuelle Lage?

Informationen muss ich mir selbst besorgen, ich bekomme ein paar infos von der ASF und von der Landesbeauftragten. Aber es gibt keine Informationen, wenn ich nicht danach frage, das ist ganz bizarr.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Aline Anders-Lepsch für Antenne Brandenburg.

Sendung: Antenne Brandenburg, 11.10.2023, 16:40 Uhr

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