Interview | Frankfurts Sozialdezernent zu minderjährigen Geflüchteten
Die Stadt Frankfurt (Oder) hat seit Jahresbeginn fast 250 unbegleitete Minderjährige aufgenommen. Frankfurts Sozialdezernent Jens-Marcel Ullrich fordert Unterstützung vom Land - und kann sich eine weitere zentrale Aufnahmeeinrichtung vorstellen.
Einige der minderjährigen Geflüchteten, die die deutsch-polnische Grenze überqueren, reisen ohne Eltern oder nähere Verwandtschaft. Sie kommen nicht in die Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt (Oder-Oder-Spree), sondern werden dem Jugendamt übergeben.
Allein in Frankfurt (Oder) sind nach Angaben der Stadt seit Juli 75 Kinder und Jugendliche aufgenommen worden. Sie bekommen an zwei geschützten Orten in der Stadt eine Unterkunft und Sozialpädagogen kümmern sich um sie. Jens-Marcel Ullrich (SPD) ist Sozialdezernent in Frankfurt ist zuständig für das Jugendamt und beklagt eine "dramatische Situation".
rbb|24: Herr Ullrich, wie ist aktuell die Situation in Frankfurt, was unbegleitete Minderjährige angeht?
Jens-Marcel Ullrich: In der Stadt Frankfurt (Oder) stellt sich die Situation dramatisch dar. Wir haben seit Jahresanfang 247 Aufnahmen zu verzeichnen. Das heißt, die unbegleiteten Minderjährigen fallen in unsere Zuständigkeit und müssen durch uns betreut werden. Die Kapazitäten dafür sind aber nicht wirklich da, und deswegen gibt es Hilferufe ans Land, uns hier zu unterstützen.
Wie sieht die Unterstützung dann aus, sollen Ihnen die Jugendlichen abgenommen werden?
Die Unterstützung sieht bisher eher mäßig aus, weil es nicht wirklich eine Lösung für das Problem gibt. Ich denke, hier müsste das Land auch eine zentrale Aufnahmeeinrichtung vorhalten. Darum kämpfen wir. Aber das Land duckt sich hier noch zurzeit jedenfalls ein Stückchen weg und deswegen fordern wir gemeinsam mit Spree-Neiße ein besseres Vorgehen, eine bessere Koordinierung und eine bessere Verteilung der in Obhut genommenen.
Sie haben von dramatischen Zuständen gesprochen. Wie schlimm ist die Überlastung?
Wir haben hier vor Ort nicht die Kapazitäten, um eine solche Anzahl so unterbringen zu können, wie es die Standards erfordern. Insofern sind sowohl die Landkreise als auch wir als kreisfreie Stadt, die sich an der Grenzregion befinden, stark in einer Überlastungssituation. Kapazitäten müssten insofern geschaffen werden, dass wir mehr aufnehmen können. Aber auch die Verteilung in die anderen Landkreise müsste viel schneller passieren. Und auch da hält man sich eher zurück.
Ein frisch bezogenes Bett, ein Stuhl, Tisch und Schrank - dazu die Mahlzeiten. Das ist das, was den Flüchtlingen erst einmal zusteht. Doch bei Kindern und jungen Menschen gibt es noch viel mehr zu beachten, oder?
Ja. Es geht unter anderem um Clearing-Verfahren [Annahme der Redaktion: Klärung des Hilfebedarfs], um die pädagogische Betreuung. Es gibt Traumata, mit denen man umgehen muss. Es geht aber auch um die ärztliche Versorgung. Insofern sind wir im Vergleich zum Rest des Landes stark mehrbelastet - genauso wie Spree-Neiße. Und deswegen fordern wir dringend Unterstützung vom Land.
Es gibt noch eine Besonderheit. Die Stadt Frankfurt ist quasi nun für jedes Kind verantwortlich, eine Art Vormund - auch wenn die Minderjährige die Stadt verlassen und woanders hingehen. Wie funktioniert das?
Ja, wir bleiben zuständig hinsichtlich der Betreuung der einmal in Obhut genommenen Minderjhärigen. Die, die sich tatsächlich auf den Weg machen und woanders hingehen, werden in aller Regel als vermisst angezeigt. Werden sie dann irgendwo aufgegriffen, wendet man sich wieder an uns, weil wir tatsächlich so eine Art Vormund für die unbegleiteten Minderjährigen sind und uns dann weiter kümmern müssen.
Reden wir generell eher über Jugendliche oder über Kinder?
Über Jugendliche, wo man aber manchmal auch Zweifel haben kann, ob die dann tatsächlich noch nicht volljährig sind. Oft müssen da Unterstellungen getroffen werden, weil manch einer, der sich als unbegleiteter Minderjähriger ausgibt, nicht wirklich minderjährig ist. Da gibt es Untersuchungen, um so etwas festzustellen. Es sind alles zusätzlichen Belastungen für das örtliche Gesundheitssystem. Und auch hier benötigen wir Unterstützung.
Die Belastung für diese jungen Menschen ist eine ziemlich große, weil ihre Familien sie oft quasi vorschicken in der Hoffnung, dass die Familie nachziehen kann. Beobachten Sie das auch?
Ja, es ist schon weit verbreitet, dass die jungen Männer zumeist auf den Weg geschickt werden, um dann hier sesshaft zu werden und dann die Familien nachzuholen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Ullrich.
Die Fragen stellte Sabine Tzitschke. Der Text ist eine redigierte Fassung des Interviews.
Sendung: Antenne Brandenburg, 06.10.2023, 15:20 Uhr
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