Sorge vor neuer Katastrophe an der Oder
Tausende tote Fische trieben im vergangenen Sommer in der Oder. Sie waren von Algen vergiftet worden, die sich durch salzhaltige Abwässer und Wärme rasant vermehrt hatten. Die Einleitungen sind geblieben. Damit droht das nächste Fischsterben. Von Martin Adam
In Cigacice, einem kleinen Ort an der Oder im Westen Polens, trifft sich Ende August 2022 eine kleine Gruppe wütender Menschen. "Was hat die Oder vergiftet", fragt einer von ihnen, während zu diesem Zeitpunkt ein paar Meter weiter im Fluss immer noch die toten Fische vorbeitreiben. Die Demonstrierenden rufen: "Wir wollen die Wahrheit!"
Ein halbes Jahr ist seitdem vergangen. Besonders viele Antworten haben die Menschen in Cigacice seither jedoch nicht bekommen. Nur: Primnesium Parvum war es, die sogenannte "Goldalge", die die Fische vergiftet hat. Das erklärten Untersuchungskommissionen in Deutschland und Polen, die - anders als angekündigt - auch mehr nebeneinander als miteinander gearbeitet haben, Ende September.
Die Salzwasseralge hat eigentlich in Süßwasserflüssen nichts verloren, konnte sich aber durch hohe Salzeinleitungen aus der Industrie auch in der Oder ansiedeln. Ihre Blüte ist giftig, das hat die Fische und andere Flusstiere das Leben gekostet.
Einen Verantwortlichen, gar einen strafrechtlichen Schuldigen, konnte man auf polnischer Seite nicht ausfindig machen, erklärte im September der Generaldirektor der polnischen Umweltschutzbehörde, Andrzej Szweda-Lewandowski: Keiner der kontrollierten Betriebe habe über der Norm liegende Abwässer eingeleitet. "Für alle kontrollierten Einleitungen gab es wasserrechtliche Genehmigungen", so Szweda-Lewandowski.
Als die deutsche Untersuchungskommission im September ihren Abschlussbericht zur Oder-Katastrophe vorstellt, präsentiert Andrzej Szweda-Lewandowski einen Zwischenbefund. Auf den vollständigen Untersuchungsbericht wartet man in Polen bis heute.
Auch Bergbaubetriebe oder der niederschlesische Kupferkonzern KGHM, die als mögliche Verursacher schnell unter Verdacht gerieten, verschwanden wieder aus dem Fokus. Zwar haben sie enorme Mengen Salze eingeleitet, aber eben alles mit Erlaubnis der Wody Polskie, der polnischen Wasserbehörde – einer durch die PiS-geführte Regierung 2018 geschaffenen Behörde, die parallel zu den regionalen Verwaltungen von Warschau aus die polnischen Wasserwege vor allem bewirtschaftet.
Für die polnische Regierung ist die Oder weniger ein Naturraum, als ein Wirtschaftsfaktor. Wie wenig man auf deutsche Naturschutzbedenken gibt, machte bei einem Wahlkampfauftritt im Dezember PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski deutlich. Die Deutschen wollten Polen zu einem Freilichtmuseum machen, erklärte er. "Die wirtschaftliche Entwicklung Polens ist, um es vorsichtig auszudrücken, kein Ziel der Deutschen", so Kaczynski.
Im selben Monat ließ ein Warschauer Verwaltungsgericht nach Klagen deutscher Umweltschützer und des Brandenburger Umweltministeriums den polnischen Oder-Ausbau vorläufig stoppen. Wody Polskie, die Wasserbehörde, legt ein Einspruch ein - und baut seither weiter. Przemysław Daca, der frühere Leiter der Behörde, wurde nach der Oder-Katastrophe gefeuert. Jetzt ist er stellvertretender Leiter - ausgerechnet der Umweltschutzbehörde.
Mit "gigantischer Arbeit" sei die Situation an der Oder analysiert worden, erklärt im Dezember der stellvertretende Umweltminister Jacek Ozdoba. Aber er räumt auch ein, dass sich eigentlich nichts geändert hat: "Der Salzgehalt ist enorm und leider kann es zu weiteren Giftausscheidungen kommen, die ein Fischsterben verursachen können."
Solange das Problem der wasserrechtlichen Genehmigungen nicht gelöst wird, müsse man sich darüber Gedanken machen, so Ozdoba. Sein Eingeständnis, dass sich regionale und Warschauer Behörden gegenseitig im Weg stehen, er nennt es "Doppelherrschaft", kommt einer Kapitulation gleich.
Beim WWF Polska gibt man sich inzwischen keiner Illusion mehr hin. Die Umweltschützerin Alicja Pawelec befürchtet, dass das Tiersterben weitergeht, sobald die Temperaturen wieder steigen: "Die Situation wird nicht besser. Die ganze Zeit beobachten wir, dass die Salzgehalt-Normen um das Vier- bis Fünffache überschritten werden. An einigen Stellen ist der Salzgehalt heute höher als während der Katastrophe. Nur dank der niedrigen Temperaturen blüht die Goldalge gerade nicht."
Nochmal so schlimm wie im letzten Jahr werde das Sterben aber nicht, sagt Alicja Pawelec mit hörbarem Frust. Laut Schätzungen seien im Sommer 2022 bereits etwa 50 Prozent der Fische und 80 Prozent der Muscheln gestorben. Viel lebt nicht mehr in der Oder, was noch vergiftet werden könnte.
Sendung: Antenne Brandenburg, 14.02.2023, 15.10 Uhr
Beitrag von Martin Adam
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