Junge Arbeitende
In etlichen Branchen wird derzeit gestreikt - auch in Berlin und Brandenburg. Doch seit Jahrzehnten sinkt das Interesse von jungen Menschen an Gewerkschaften. Diese bekommen den demografischen Wandel bereits zu spüren. Von Oliver Noffke
Millionen Briefe und Pakete bleiben liegen, weil die Deutsche Post bestreikt wird. Sämtliche Passagierflüge am BER fallen einem Warnstreik der Flughafenbeschäftigten zum Opfer. Metaller, Journalist:innen und Medienschaffende, das Personal bei der Bahn oder die mehr als zwei Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst: Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und der Entlohnung scheint aktuell ein branchenübergreifender Zustand zu sein.
Während der Pandemie hielten sich in vielen Branchen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Forderungen zurück. Doch diese Zeit der Ruhe ist nun vorbei. Angesichts der enorm angezogenen Inflation treibt es viele auf die Straße. Bereits Ende Januar zeigt sich, dass 2023 ein Jahr werden könnte, das von Arbeitskämpfen bestimmt sein wird.
"Tarifverträge sind nur so gut, wie wir gewerkschaftlich organisiert sind", sagt Sebastian Riesner. Er ist Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrungsmittel-Genuss-Gaststätten (NGG) in Berlin und Brandenburg. "Da, wo wir in der Lage sind, im Zweifelsfall unsere Forderungen auch durch die uns zur Verfügung stehenden Mittel, etwa Warnstreiks oder Streiks durchsetzen zu können, sind Arbeitsbedingungen immer besser, als da, wo Menschen meinen, sich nicht gewerkschaftlich organisieren zu müssen."
Was bei vielen Streiks auffällt, ist der geringe Anteil junger Menschen unter den Beschäftigten im Ausstand. Haben Gewerkschaften ein Nachwuchsproblem? Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: Ja, haben sie. Das zeichnet sich seit Langem ab und wird sich in naher Zukunft womöglich deutlich verschärfen. Den Ernst der Lage kennt auch Lucas Krentel, Landesjugendsekretär von Verdi Berlin-Brandenburg: "Wenn wir es nicht schaffen, mehr junge Menschen für eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft zu begeistern, dann sieht es auch für uns in Zukunft nicht gut aus."
Regelmäßig erscheinen Studien von Wirtschaftsverbänden, Universitäten oder internationalen Organisationen, die sich mit den Verhältnissen zwischen Gewerkschaften auf der einen Seite und Auszubildenden, Studierenden oder Berufseinsteigern auf der anderen beschäftigen. Nicht immer sind ihre Ergebnisse deckungsgleich oder uneingeschränkt vergleichbar. Doch sie deuten meist in die gleiche Richtung: Menschen unter 30 sind zunehmend schwerer von der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu überzeugen.
"Unter den verschiedenen Gruppen unterrepräsentierter Gruppen in Gewerkschaften gelten junge Arbeitnehmer als die 'problematischste Gruppe'." Zu dieser Einschätzung kam eine Untersuchung aus dem Jahr 2018 [academic.oup.com], an der Universitäten aus 19 europäischen Ländern gearbeitet hatten.
Die Wissenschaftler:innen nennen drei Gründe für das abflauende Interesse:
Bei Verdi in Berlin und Brandenburg versucht man sich dem schnellen Wandel der Arbeitsrealitäten anzupassen. "Wir bieten auch Arbeitsrechtsschulungen auf Englisch an. Es gibt ja jetzt viele Start-ups, in denen Betriebsräte gegründet werden", sagt Lucas Krentel. "Da ist schon viel Bewegung drin und ich glaube, das zeigt sich auch innerhalb von Verdi." Krentel spricht von einem Kulturwandel, den er innerhalb seiner Gewerkschaft wahrnehme.
"Was ich nicht ganz so problematisch sehe wie die Statistiker, ist, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei jungen Menschen niedriger ist, als bei denjenigen, die um die 40 Jahre alt sind", sagt hingegen NGG-Geschäftsführer Riesner. "Das hat vielleicht auch etwas mit Umdenkprozessen zu tun, die im Laufe des Lebens stattfinden." Wenn Familienplanungen anstünden, sich Wohn- und Arbeitsplätze verfestigten, änderten viele ihre Meinung zu Arbeitnehmervertretungen. "Das sehen wir bei den Neuaufnahmen, die wir haben", so Riesner. "Das passiert oft zu einem Zeitpunkt, wo die Menschen darüber nachdenken müssen, wie sie Familie und Beruf unter einen Hut bringen können."
Die genannte Studie macht auch deutlich, wie wichtig es für Gewerkschaften ist, dass ältere Mitglieder junge Kolleginnen und Kollegen ansprechen. Wenn alle allein von ihrem Zuhause aus arbeiten, ist dieser Austausch natürlich massiv gestört. Doch selbst wenn Alt und Jung gemeinsam im gleichen Büro, im selben Labor oder in ein und derselben Montagehalle arbeiten: Es wird zunehmend unwahrscheinlicher, dass erfahrene Gewerkschafter Berufseinsteiger überzeugen können.
Im Jahr 2019 waren laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) [stats.oecd.org] 16,3 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland in einer Gewerkschaft. Noch nie war die Organisationsquote derart niedrig. Zur Jahrtausendwende waren es noch 24,6 Prozent.
Dennoch liegt Deutschland leicht über dem OECD-Durchschnitt. Weit entfernt zwar von unseren Nachbarn in Österreich (26,3 Prozent), Belgien (49,1 Prozent) und Dänemark (67 Prozent), aber deutlich hinter Spitzenreiter Island. Dort stieg dieser Wert zuletzt sogar wieder leicht an und liegt nun bei 92,2 Prozent. Die Vulkaninsel im Nordatlantik ist allerdings eine Ausnahme. Weltweit sorgen sich Gewerkschaften um ausreichend Nachwuchs. Seit dem Jahr 2000 sanken die Mitgliederzahlen in so gut wie allen OECD-Staaten – zum Teil deutlich.
Eine Ausnahme bildet Frankreich. In den Augen vieler ein Paradies für Arbeitnehmer, mit starken Gewerkschaften und einer streikerprobten Bevölkerung. Tatsächlich liegt die Organisationsquote unter den Beschäftigten seit mehr als 20 Jahren wie einbetoniert um die 10,8 Prozent.
Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln kam 2018 zu dem Ergebnis [iwkoeln.de], dass hierzulande 15,8 Prozent der Arbeitnehmer im Alter von 18 bis 29 Jahren in einer Gewerkschaft organisiert sind. Das waren im Durchschnitt mehr als bei den 30- bis 39-Jährigen (15,5 Prozent) oder bei den 40- bis 49-Jährigen (14,4). Unter den über 50-Jährigen sind hingegen 19,2 Prozent organisiert.
Diese Zahlen erscheinen auf den ersten Blick, als habe der Trend gestoppt werden können – die ganz Jungen sind etwas wahrscheinlicher wieder in einer Gewerkschaft. Vielleicht trifft dies sogar zu, das wird sich erst noch zeigen müssen. Weder von der OECD noch vom IW Köln oder anderen Einrichtungen gibt es aktuell belastbare Zahlen für die Pandemiejahre 2020 bis 2022.
Verbindet man die Ergebnisse des IW Köln mit den absoluten Zahlen zum Alter von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, wird deutlich, wie sehr der demografische Wandel Gewerkschaften treffen wird. Die sogenannten Millennials (geboren zwischen 1980 und 1999) sowie die Generation Z (geboren ab 2000) müssten sich schon jetzt doppelt oder dreifach so oft in Gewerkschaften engagieren, um die Verluste auszugleichen, die entstehen werden, wenn die geburtenstarken Jahrgänge sich in die Rente zurückziehen werden. Wer macht Radau, wenn sich die Baby-Boomer in den Ruhestand verabschieden?
"Jede Generation muss dafür sorgen, dass Ihre Interessen angemessen vertreten werden", sagt Sebastian Riesner von der NGG. "Natürlich müssen wir uns als Gewerkschaften fragen, ob wir noch interessant genug sind." Dass die junge Generation alles andere als unpolitisch sei, könne man ja beim Engagement im Klimaschutz sehen, findet er. "Da muss es auch kritische Diskussionen innerhalb der Gewerkschaftsbewegungen geben."
"Junge Menschen haben heute viel öfter gebrochene Lebensläufe", sagt Lucas Krentel von der Verdi-Jugend. "Gremienarbeit in einer Gewerkschaft ist nicht so attraktiv, wenn ich mich nur für mehrere Jahre auf ein Amt wählen lassen kann." Verdi habe erst neue Formen finden müssen, um für Junge attraktiv zu werden.
Krentel ist überzeugt, dass der demografische Wandel den Jüngeren künftig eher nutzen werde - in und außerhalb der Gewerkschaften. Schließlich schaffe der Fachkräftemangel eine sehr gute Ausgangsposition, um Forderungen durchzusetzen. "Ich glaube, es kommt darauf an, dass wir es schaffen, jungen Menschen eine Plattform zu bieten, sie nach vorn zu stellen und natürlich müssen dann auch manche Menschen Platz machen für sie."
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.01.2023, 15 Uhr
Beitrag von Oliver Noffke
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