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Quelle: dpa/S.Sauer

Arbeitskräftemangel in Berlin und Brandenburg

Jetzt werden auch ungelernte Arbeitskräfte knapp

Viele Geschäfte schränken ihre Öffnungszeiten ein, Kitas gehen in den Notbetrieb, Behörden schließen wochenweise. Der Arbeitskräftemangel beginnt den Alltag in der Region zu prägen. Ein Vorgeschmack - denn in den Unternehmen wird es immer enger. Von Jan Pallokat

Wer in Berlin und Brandenburg Dienstleistungen in Anspruch nehmen will, ist immer häufiger mit dem Problem konfrontiert, dass das Personal dafür fehlt. Telefonläden haben beispielsweise Werkstätten für Handy-Reparaturen, aber kein Personal, um das Glas auszutauschen. Die digital gesteuerte Fußbodenheizung funktioniert tagelang nicht, weil die Wartungsfirma keine Techniker auftreiben kann. Die Kita fleht per SOS-Kurzbotschaft Eltern an, ihre Kinder früher abzuholen, weil das Personal für die Betreuung fehlt.

Oft ist der enorme Krankenstand der vordergründige Anlass. Doch selbst wenn alle gesund wären, wäre das grundlegende Problem nicht vom Tisch. Wegen der demographischen Struktur tun sich Unternehmen immer schwerer, Ersatz zu finden für Mitarbeiter, die nun massenhaft in Rente gehen, weil sie geburtenstarken Jahrgängen angehören. Und die immer dünneren Personaldecken werden zunehmend auch außerhalb der Unternehmen sichtbar.

Nicht nur Fachkräfte fehlen, sondern auch Ungelernte

"Gaststätten wechseln auf Selbstbedienung. Der Bäcker macht um 14 Uhr zu, und im Hotel können sie nicht mehr vor vier Uhr einchecken, weil früher kein Putztrupp zu finden ist", so beschreibt Detlef Gottschling von der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Potsdam die derzeitigen Herausforderungen für Unternehmen. "Der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Fachkräfte fehlen schon 20 Jahre. Jetzt fehlen auch Arbeitskräfte." Was Gottschling damit meint, sind etwa Angelernte, die im Hotel die Betten glattstreichen.

Bei den besonders begehrten Fachkräften ist der Mangel längst chronisch. Das offenbart der am Donnerstag erschienene "Fachkräftereport" [dihk.de] der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). In ihm ist von zwei Millionen vakanten Arbeitsplätzen in ganz Deutschland die Rede. Jedes zweite von 22.000 befragten Unternehmen hat demnach angegeben, Stellen nicht besetzen zu können, und zwar ausdrücklich auch aus sogenannten Zukunftsbranchen: Energie, Hochtechnologie, Datenverarbeitung. 100 Milliarden Euro weniger erwirtschaftet Deutschland deswegen.

Fragen und Antworten

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Auch wenn die Zahlen rückläufig sind: Noch immer erkranken in Berlin und Brandenburg überdurchschnittlich viele Menschen an der Influenza. Woran liegt's? Ist ein Ende der Grippewelle in Sicht? Und lohnt sich noch die Impfung? Alle Antworten im FAQ.

Und der Mangel wird sich weiter verschärfen, auch in Berlin und Brandenburg. Wohin die Region steuert, zeigt das "Fachkräftemonitoring" [fkm-brandenburg.de] - ein Prognose-Instrument, das in allen Kammerbezirken eine ähnliche Entwicklung voraussagt: Auf der einen Seite sinkt die Zahl verfügbarer Arbeitskräfte in den nächsten Jahren stark. Auf der anderen Seite geht die Nachfrage nach ihnen nur ganz allmählich zurück.

In Zahlen heißt das: Im Land Brandenburg dürfte sich die Fachkräftelücke von derzeit gut 40.000 binnen zwölf Jahren auf 160.000 unbesetzte Stellen ausweiten. Auch für Berlin wird eine Vervierfachung erwartet - von jetzt 100.000 auf 400.000 unbesetzte Arbeitsplätze, sagen die Prognostiker. 400.000 Menschen weniger, die Lohnsteuern zahlen oder eine Familie ernähren und die Wirtschaft am Laufen halten.

Berlin nützt seine Attraktivität wenig

Die Berliner Wirtschaft sei durch eine hohe Dichte personalintensiver Branchen besonders von dieser Entwicklung betroffen, betont Nicole Korset-Ristic, Vizepräsidentin der Berliner IHK. Wie schon in Potsdam, heißt es auch hier: "Wir sprechen nicht mehr nur über begehrtes Fachpersonal, sondern über fehlende Arbeitskräfte für Basisarbeiten in Bereichen wie Handel, Gastgewerbe, Reinigung, oder Logistik."

Die Attraktivität der Stadt gerade für viele junge Leute helfe da wenig. "Kommen 400.000 junge Leute in die Stadt?", fragt die IHK Berlin. "Und bleiben sie nach dem Studium?"

Personalgewinnung als Dauerlauf

Wer kann, versucht durch Ausbildung und Umschulung eigene Kräfte aufzubauen. Beim Berliner Betreiber "Kindergärten City" mit 56 Kitas im Stadtzentrum sind dennoch 40 bis 50 der rund 1.400 Stellen dauerhaft unbelegt, sagt die pädagogische Geschäftsleiterin Katja Renner. Es wären möglicherweise noch deutlich mehr, wäre nicht inzwischen fast jede fünfte Stelle mit Quereinsteigern in Umschulung oder Auszubildenden besetzt. Darunter leide aber zwangsläufig die Qualität, räumt Katja Renner ein. "Wir betreuen die Kinder." Dem Bildungsauftrag könne man so oft nur eingeschränkt nachkommen.

Überhaupt müsse der städtische Betrieb immer mehr Zeit und Mühe investieren, um seine Mannschaftsstärke einigermaßen zu halten. "Wir haben ununterbrochene Bewerbungs- und Auswahlverfahren und versuchen bei der Rekrutierung alles nur Mögliche", sagt Renner. Doch mit einer erfolgreichen Einstellung ist die Schlacht noch längst nicht geschlagen. Parallel muss sie dafür kämpfen, dass die, die angefangen haben, auch bleiben. Denn heute sei der Arbeitgeber oft nur einer von vielen. Die neue Stelle wird von vielen nicht mehr als Berufung, sondern als "Lebensphase" gesehen, sagt die Geschäftsleiterin.

Die beginnende Verrentungswelle der "Babyboomer" kommt da zur Unzeit: "Menschen, die lange bei uns waren und Vollzeit arbeiteten, durch solche zu ersetzen, die nicht so lange bleiben und auch nicht voll arbeiten wollen - das ist eine Herausforderung für die Qualitätssicherung."

Streit um Ausbildung

Die hohe Fluktuation und die angespannte Situation in vielen Betrieben gefährde auch den Betriebsfrieden, sagt Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin. Teilweise seien die Probleme aber auch hausgemacht, erklärt er. "Gerade in Berlin müssen die Unternehmen endlich mehr ausbilden", fordert Otto. Nirgendwo in Deutschland sei der Azubi-Anteil an den Beschäftigten geringer, nämlich bei 3,2 Prozent.

Der Vorwurf der Gewerkschaften, dass nicht genug ausgebildet werde, erheben die Gewerkschaften jedes Ausbildungsjahr aufs Neue - die Arbeitgeber verweisen auf Unzulänglichkeiten vieler Bewerber. Doch selbst wenn die Wirtschaft ihre Anstrengungen vervielfachen würde - die Arbeitskräftemisere könnte sie allein dadurch kaum mehr beheben.

Aus Altersgründen

Jede dritte Lehrkraft verlässt Berliner Schulen bis 2027

In den nächsten vier Jahren scheiden etwa 10.000 Lehrkräfte aus Altersgründen aus dem Schuldienst aus. Das ist etwa jeder dritte Lehrer. Der Senat will deshalb die Hochschulen verpflichten, mehr Absolventen hervorzubringen.

"Man muss ein guter Arbeitgeber sein."

Im IHK-Bezirk Frankfurt/Oder tut sich hingegen etwas: Von einem "positiven Trend" bei der Ausbildung und einem Plus um sieben Prozent im aktuellen Ausbildungsjahr berichtet Michael Völker, bei der ansässigen IHK für Aus- und Weiterbildung zuständig ist. Doch könnten 1.500 Azubis nicht einmal die altersbedingten Abgänge ausgleichen, räumt er ein. Die bestehende Fachkräftelücke von derzeit etwa 5.000 Menschen im Brandenburger Osten schließen, könnten sie erst recht nicht.

Ist also alles schon verloren? Einige Unternehmen setzen auf Automatisierung, andere darauf, dass Deutschland doch irgendwann eine qualifizierte Einwanderung nach Vorbild Kanadas hinbekommt. Und: "Man muss halt ein guter Arbeitgeber sein“, sagt Kita-Betreiberin Renner.

Personalgewinnung für viele Unternehmen zu teuer

Die Berliner S-Bahn setzt derweil vor allem auf große Investititonen in der Personalgewinnung. Laut einer Sprecherin spürt das Unternehmen den Arbeitskräftemangel deswegen kaum: "Im Gegenteil, wir bauen aus und stellen jährlich 200 Lokführer ein." Als Erfolgsgeheimnis verweist sie auf besonders kreative Rekrutierungsaktionen, aufs "Speed-Dating im Zug" etwa. Größere Unternehmen sind auch auf Messen und an den Hochschulen präsent - und holen sich hier ihren Nachwuchs ab.

In der kleinteiligen Berliner Wirtschaft aber, geprägt von Firmen mit 10 bis 50 Mitarbeitern, können sich nur wenige einen derartig dauerhaften und preisintensiven Aufwand im Kampf um die Köpfe leisten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 12.01.2023, 14:35 Uhr

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Beitrag von Jan Pallokat

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