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Audio: rbb24 Inforadio | 17.01.2023 | Ulf Morling | Quelle: dpa/Christophe Gateau

Über 15 Millionen Euro Schaden

Mutmaßliche Bande steht wegen Einschleusung illegaler Leiharbeiter vor Gericht

Neun Angeklagte müssen sich wegen jahrelangen Verleihs von Billigarbeitskräften vor dem Berliner Landgericht verantworten. Sie sollen die Menschen mit gefälschten Papieren eingeschleust, an Arbeitgeber vermittelt und große Teile ihres Lohns einbehalten haben. Von Ulf Morling

Wegen bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern, Urkundenfälschung, Verstoß gegen das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz und Steuerhinterziehung müssen sich acht Männer und eine Frau (34 bis 62 Jahre) ab Dienstag vor der 36. Wirtschaftsstrafkammer des Berliner Landgerichts verantworten.

Neun weiteren gesondert verfolgten Angeschuldigten wird Behilfe vorgeworfen. Die Angeklagten sollen teilweise einer Bande angehört haben, die dreieinhalb Jahre lang Nicht-EU-Ausländer an deutsche Unternehmen vermittelte und sie mit gefälschten Papieren zu Leiharbeiter:innen machte, die angeblich aus der EU kamen. Das war auch für die deutschen Unternehmen attraktiv, da zwar der gesetzliche Mindestlohn gezahlt werden muss, aber Abgaben und Steuern von EU-Bürger:innen in ihren EU-Heimatländern gezahlt werden können. Eine Arbeitskraft ist also wesentlich preiswerter.

Leiharbeiter:innen für Supermarktketten und Versandhandel

Mindestens zwei Supermarktketten, zwei Versandhändler für Bekleidung bzw. Frischkost und ein Getränkegroßhandel sollen jeweils den gesetzlichen Mindestlohn an die Vermittlungsfirmen der Leiharbeiter:innen beispielsweise im Baltikum überwiesen haben. Im Durchschnitt sollen die Arbeitenden von der mutmaßlichen Bande 20 Prozent weniger ausgezahlt bekommen haben.

Die Angeklagten, die zur Führungsebene des weitverzweigten internationalen Firmennetzwerks gehören sollen, und die von ihnen in den deutschen Firmen eingesetzten Vorarbeiter, sollen mit der organisierten Schwarzarbeit allein rund 15,8 Millionen Euro Schaden verursacht haben, durch hinterzogene Beiträge zur Sozialversicherung und nicht gezahlte Lohn- und Umsatzsteuer, wirft ihnen die Generalstaatsanwaltschaft vor.

Briefkastenfirmen in baltischen Staaten sollen die Arbeitskräfte laut Ermittlungen "in Scheinarbeitsverhältnissen" eingestellt und nach Deutschland vermittelt haben. Allein für den Transport aus ihrer Heimat nach Deutschland sollen die Leiharbeiter:innen 200 bis 900 Euro Schulden bei der angeklagten Bande noch vor ihrer Arbeitsaufnahme gehabt haben, berichteten Zeug:innen.

Die Leiharbeitnehrner:innen seien in einem "relativ willkürlichen System beschäftigt" worden mit einem Lohn "deutlich unter dem Mindestlohn", so die Ermittler:innen. Monatlich wurden Kosten u.a. für Unterkunft (300-500 Euro), den täglichen Transport zum Arbeitsplatz (10-50 Euro monatlich), aber auch Strafen für abweichendes Verhalten bis zur Kündigung vom Lohn abgezogen.

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Dreieinhalb Jahre lang notleidende Ausländer:innen beschäftigt

Als Ideengeber der Bande, die über 1.500 Leiharbeiter:innen illegal nach Deutschland eingeschleust haben soll, gilt der 50-jährige Deutsch-Russe Z., der "an der Spitze" des hierarchisch aufgebauten Netzwerkes der Bande gestanden haben soll. Wie acht der neun Angeklagten war er am 8. Dezember 2021 festgenommen worden. Er sitzt bis heute in Untersuchungshaft.

Sieben der Angeklagten werden allerdings aus der Freiheit dem Prozessauftakt beiwohnen, u.a. auch ein 57-jähriger gebürtiger Russe mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft, der wie die mitangeklagte Ehefrau (43) mit ebenfalls US- amerikanischer Staatsabürgerschaft in Berlin wohnt. Beide Ehepartner sind nicht vorbestraft und saßen sechs bzw. drei Monate in Untersuchungshaft. Die 43-jährige soll wegen ihrer Deutschkenntnisse besonders wertvoll gewesen sein für die mutmaßliche Bande, unter anderem für die Kommunikation mit der Bundesagentur für Arbeit. Sie soll als mutmaßliche "Geschäftsvertreterin in Berlin" aufgetreten sein.

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Ziel: Vermittlung von notleidenden Menschen aus Osteuropa

Z. soll laut Generalstaatsanwaltschaft wahrscheinlich in der ersten Jahreshälfte 2018 begonnen haben, seine Idee "für ein Unternehmensgeflecht zur Vermittlung von Leiharbeitnehmer:innen umzusetzen". So sollen spätestens im Mai desselben Jahres alle Unternehmen gegründet worden sein, die im Ausland und Deutschland jeweils Vertragspartner der deutschen Unternehmen wurden, die Leiharbeiter:innen beschäftigen wollten.

Ziel laut Ermittlern: vor allem "notleidende Staatsangehörige" aus der Ukraine, aber auch Georgien, Kasachstan und Moldawien mit EU-Papieren auszustatten, damit sie in den Logistikzentren der Einzelhandelsunternehmen und Versandfirmen in Deutschland als Lagerarbeiter- und Kommissionierer:innen eingesetzt werden konnten. Dabei soll Z. als "verantwortlicher formeller wie auch faktischer Geschäftsführer" aufgetreten sein, wirft ihm die Generalstaatsanwaltschaft vor.

Um die vorgeworfenen kriminellen Aktivitäten zu verschleiern, soll ein Geflecht von Verleih- und Verwaltungsunternehmen gegründet worden sein, dass laut Hompageeinträgen teilweise bis heute im In- und Ausland, oder zumindest im Internet, existiert, und in denen laut Generalstaatsanwaltschaft Strohmänner als Geschäftsführer eingesetzt wurden.

Mit vermeintlich legalen Papieren sollen die Leiharbeiter:innen bei den deutschen Arbeitsämtern schließlich angemeldet und zu den jeweiligen Unternehmen vermittelt worden sein. Sie hätten in Deutschland nicht als steuer- und abgabepflichtig gegolten, da "suggeriert" worden sei, dass die Leiharbeiter:innen als angebliche EU-Bürger:innen von allen Abgaben und Steuern hier befreit waren.

Der Status der Arbeitskräfte war aus Sicht der Behörden durch ihre, laut Ermittlungen, falschen Papiere illegal. Sie hätten deshalb unter Angst vor strafrechtlicher Verfolgung gelitten und seien von dem kriminellen Geflecht in eigens angemieteten Unterkünften, wie Monteurhotels in Berlin, untergebracht und mit Pendelverkehr zu ihren Arbeitsstellen gefahren worden. Weil sie die deutsche Sprache nicht beherrscht hätten, seien sie besonders abhängig gewesen von den Bandenmitgliedern, so die Anklage.

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Um illegale Leiharbeiter:innen reibungslos zu EU-Bürger:innen in Deutschland machen zu können, soll sogar eine zentrale Anlaufstelle in der Ukraine organisiert worden sein. Darüber konnten gefälschte Papiere bestellt werden, so die Erkenntnisse der Ermittler:innen.

Selbst Gabelstaplerführerscheine sollen nachgemacht worden sein, ohne die die Arbeiter:innen nicht in den deutschen Logistikzentren der deutschen Firmen hätten beschäftigt werden können. Alle gefälschten Unterlagen seien sowohl den deutschen Unternehmen als auch der Agentur für Arbeit vorgelegt worden, behauptet die Generalstaatsanwaltschaft.

Ein Urteil? Frühestens im Sommer

Die 36. Wirtschaftsstrafkammer des Berliner Landgerichts hat bisher 39 Prozesstage bis Mitte Juli 2023 angesetzt. Neben einem sogenannten "Selbstleseverfahren", in dem alle Verfahrensbeteiligten die Prozessakten zur Kenntnis nehmen müssen, gibt es zahlreiche Zeugen und Sachverständige.

Die Verteidigung wird unter anderem durch Beweisanträge und über das Befragen von Zeug:innen klären wollen, ob eine gewisse Mitschuld der Agentur für Arbeit und der deutschen Unternehmen zu belegen ist. Waren die Vertreter:innen des deutschen Staates und die beteiligten Firmen beim Beschäftigen von mindestens 1.534 illegalen Leiharbeiter:innen wirklich völlig ahnungslos? War wirklich nicht bekannt, dass die Beschäftigten mit falschen Papieren arbeiteten und im Durchschnitt unter 20 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns verdient haben sollen?

Beitrag von Ulf Morling

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