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Audio: rbb24 Inforadio | 20.02.2023 | Jan Pallokat | Quelle: dpa/Heiko Rebsch

Interview | Studie zu Beschäftigung

Ukrainische Geflüchtete arbeiten außergewöhnlich oft selbständig

Viele der nach Deutschland geflohenen Ukrainer:innen sind erwerbstätig, oft auch selbständig, obwohl nur wenige Deutsch sprechen. Sind Ukrainer:innen besonders arbeitsfreudig? Ein Interview mit Volkswirtschafts-Professor Herbert Brücker.

Im Rahmen einer repräsentativ angelegten Studie vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wurden im Sommer 2022 11.000 Ukrainer:innen zu ihrer beruflichen Situation befragt. 85 Prozent haben angegeben, dass sie in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen. Knapp 80 Prozent gingen zudem bereits in der Ukraine einem Beruf nach.

rbb|24: Herr Brücker, ist der Eindruck richtig, dass es sich bei Ukrainer:innen in Deutschland um eine besonders beschäftigungsfreudige Gruppe handelt, auch im Verhältnis zu anderen Gruppen?

Herbert Brücker: Zum Zeitpunkt der Befragung, im August/September 2022 waren bereits 17 Prozent der Befragten in Deutschland erwerbstätig, also Menschen, die erst wenige Monate im Land waren. Ich gehe davon aus, dass das inzwischen über 25 Prozent sind. Das ist für den kurzen Zeitraum eine sehr hohe Quote, wenn man zudem bedenkt, dass darunter auch viele Frauen sind mit Betreuungsaufgaben von Kleinkindern.

Lässt sich denn Genaueres sagen über die Art der Beschäftigung?

Es sind ein paar Dinge auffällig. Mit etwa 80 Prozent arbeiten die meisten im Dienstleistungssektor. Das geht von hochqualifizierten Dienstleistungen etwa im IT- oder Medizinbereich bis zu geringer qualifizierten Dienstleistungen im Einzelhandel, Gastronomie oder Haushaltsdienstleistungen.

Und was für uns auch interessant war, dass neun Prozent der Erwerbstätigen einer selbständigen Tätigkeit nachgehen, und das ist für Menschen, die ja erst sehr kurz hier im Land sind, ein außergewöhnlich hoher Anteil. Das mag damit zusammenhängen, dass viele Menschen aus der Ukraine ihre selbständige Tätigkeit in Deutschland fortsetzen, IT-Dienstleistungen etwa für ukrainische Unternehmen erbringen und diese dann von Deutschland aus weiter ausüben.

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Ist der Antrieb, auf eigenen Beinen zu stehen und irgendetwas zu machen, etwas, was diese Menschen generell aus ihrer Heimat mitbringen?

Grundsätzlich waren die Bedingungen am ukrainischen Arbeitsmarkt vor dem Krieg nicht so gut wie in Deutschland. Wir haben schon etwas niedrigere Erwerbstätigenquoten und auch ein Gender-Gefälle, also dass mehr Männer als Frauen erwerbstätig waren. Aber die Gruppe, die jetzt gekommen ist, dass sind im Prinzip Menschen, die sehr hohe Anteile an Erwerbstätigkeit haben, die deutlich besser gebildet und ausgebildet sind als die ukrainische Bevölkerung im Durchschnitt, und damit natürlich auch sehr, sehr gute Arbeitschancen haben. Das sind zum Teil auch Menschen, die sehr flexibel sind, und die dann eben auch ihre Tätigkeiten fortsetzen können, die sie in der Ukraine schon begonnen haben.

Könnte man also sagen: Diese Menschen sind ein Gewinn für die deutsche Wirtschaft?

Es ist primär eine humanitäre Frage, das muss man immer im Auge behalten. Im Grundsatz ist natürlich jeder, der arbeitet, ein Gewinn für die Wirtschaft. Aber man muss auch sehen: Selbst wenn jetzt vielleicht 25 Prozent erwerbstätig sind und in der wachsenden Bevölkerung dann 75 Prozent nicht, bedeutet das schon eine Belastung für den Sozialstaat. Aber wir gehen davon aus, dass wir in wenigen Jahren Erwerbstätigenquoten von 50-60 Prozent erreichen werden. Und das ist im Prinzip so der Bereich, in dem es anfängt, sich volkswirtschaftlich und für den Sozialstaat zu rechnen.

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Bei alledem reden wir über Erwerbsfähige, also Kinder und Alte bleiben statistisch außen vor?

Wir reden immer über Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Das ist definiert von 15 bis 65 Jahren. Man wird nie 100 Prozent erreichen, das ist auch in der deutschen Bevölkerung nicht so. Da sind nur 70 Prozent abhängig beschäftigt. Es wird immer welche geben, die beispielsweise studieren. Und ein Riesenthema bei den Geflüchteten aus der Ukraine sind die vielen Frauen, die Betreuungsaufgaben für Kinder wahrnehmen müssen. Deren Beschäftigungsquoten sind natürlich im Schnitt geringer als die von Männern, so dass wir wahrscheinlich eine etwas geringere Erwerbstätigenquote erreichen werden als in der deutschen Bevölkerung.

Was sind sonst die wichtigsten Hürden auf dem Weg in den Arbeitsmarkt?

Die Geflüchteten aus der Ukraine haben keine Sprachkenntnisse mitgebracht. Weniger als fünf Prozent sprechen gut oder sehr gut Deutsch. Aber es hatten zum Zeitpunkt der Befragung im August und September 2022 schon 50 Prozent einen Sprachkurs begonnen oder sogar abgeschlossen. Das heißt die Sprachkompetenz wird schnell steigen. Allerdings braucht es schon einige Jahre, bis man so Deutsch sprechen kann, um eine professionelle Tätigkeit etwa im Bürobereich auszuüben.

Infobox

Um das Ganze noch etwas plastischer zu machen: Wo sind all die Menschen, noch dazu ohne Deutschkenntnisse, genau untergekommen? Welche Tätigkeiten muss man sich vorstellen?

Sie können sich alles Mögliche vorstellen. Sie können sich Bereiche mit geringeren Qualifikationsanforderungen vorstellen. Im Verkauf, im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Service, in den Küchen, im Reinigungsgewerbe, Security oder auf Baustellen. Da kommt man dann häufig auch zurecht, wenn man die Sprache nicht perfekt beherrscht. Aber sie können sich auch Tätigkeiten im hochqualifizierten Bereich vorstellen, wo Menschen etwa Ingenieur- oder IT-Tätigkeiten ausüben – in Dienstleistungsbereichen, wo einfach Englisch gesprochen wird, und das beherrscht ein Großteil der Menschen aus der Ukraine.

Was lässt sich migrationspolitisch daraus lernen?

Es lässt sich sehr viel daraus lernen. Dass wir viele Fehler, die wir 2015 gemacht haben, nicht wiederholt haben. Die Menschen durften sofort arbeiten. Die Ukrainer:innen müssen auch keine Asylverfahren durchlaufen. Das heißt es gab sofort Rechts- und Planungssicherheit. Das erhöht auch die Bereitschaft der Unternehmen, die Menschen einzustellen. Und ein anderer Aspekt der sehr, sehr wichtig ist: Nur neun Prozent der Ukrainer:innen leben in Gemeinschaftsunterkünften.

Die Menschen hatten starke Anreize, sich selbst Wohnungen zu suchen und haben das in der Regel auch geschafft oder wohnen bei Familienangehörigen oder Freunden und Bekannten. Das aber hat den sehr positiven Nebeneffekt, dass die Menschen dahin gehen, wo man leichter Arbeit findet und das erhöht Beschäftigungschancen – während wir die Geflüchteten 2015 überwiegend in strukturschwachen Regionen untergebracht haben mit einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit. Das hat ihre Beschäftigungschancen beeinträchtigt. Also dieses liberale Vorgehen schlägt sich sehr positiv in den wirtschaftlichen Erfolgen nieder.

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Auch, weil die Menschen wenn sie frisch kommen noch die Energie haben, etwas neues zu starten – und demotiviert sind, wenn sie sich erst monatelang mit Papieren herumschlagen müssen?

Es ist eine alte Weisheit der Arbeitsmarktforschung, dass Menschen, die lange aus dem Erwerbsleben draußen sind, dann sehr sehr schwer wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Das ist bei deutschen Arbeitslosen ganz genauso.

Was 2015 auch geschadet hat ist, dass man die Menschen damals relativ spät in Sprachprogramme reingenommen hat. Das macht man jetzt besser. Wir haben auch jetzt noch Probleme mit der Registrierung und der Bürokratie. Die Ukrainer:innen wundern sich, wie wenig digital Deutschland aufgestellt ist. Je schneller die Menschen aber in Sprach- oder Integrationsprogramme kommen oder hier studieren, desto stärker das Selbstbewusstsein. Je besser es den Menschen geht, umso erfolgreicher verläuft dann auch die Arbeitsmarktintegration.

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte und redigierte Fassung.

Das Interview führte Jan Pallokat.

Sendung: Fritz, 16.02.2023, 16:30 Uhr

Beitrag von Jan Pallokat

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