Senioren raus, Geflüchtete rein?
Etwa 100 Bewohner eines Seniorenheims im Wedding müssen ausziehen. Kurz darauf werden ukrainische Geflüchtete in den leerstehenden Etagen einquartiert - das bringt erstmal Schlagzeilen. Doch es steckt mehr hinter der Geschichte. Von Sebastian Schneider
Das Heim läuft leer. Ein geschwungener Bau mit bodentiefen Fenstern, man guckt daraus auf einen grünen Innenhof mit Dutzenden alten Bäumen. Vom Lärm des Weddings bekommt man hier nichts mit. Es gibt ein kleines Café, ein Ärztehaus, eine Kita. Der Schillerpark ist keine 100 Meter entfernt.
44 Seniorinnen und Senioren wohnen noch in den unteren beiden Stockwerken. Bis Ende des Jahres wird das "Pflege & Wohnen im Schillerpark" geschlossen, die pflegebedürftigen alten Menschen müssen sich ein neues Zuhause suchen. In den oberen beiden, zuvor leerstehenden Etagen des Hauses, sind seit Anfang Februar 126 Geflüchtete aus der Ukraine eingezogen.
Zuerst berichtete der "Focus" über dieses Heim, andere Medien zogen nach. Die Großbuchstaben auf den Tafeln vor den Zeitungskiosken legten nahe, dass die einen wegen der anderen rausmüssen. Die Zahl der Asylbewerber in Berlin hat sich im vergangenen Jahr verdoppelt. Es braucht gerade nicht viel, um zu zündeln. Sieht man genauer hin, was mit der Pflegeeinrichtung in der Müllerstraße passiert ist, entsteht ein anderer Eindruck. Aber der Reihe nach.
2006 pachtete die Johannesstift-Diakonie das Haus auf dem Gelände des Paul-Gerhardt-Stifts in der Müllerstraße: für eine stationäre Vollzeitpflege mit 141 Plätzen in Einzel- und Doppelzimmern. Pächter und Verpächter gehören zur evangelischen Diakonie in Berlin. Der Vertrag sollte 25 Jahre laufen, mit Option auf Verlängerung. Er hätte also eigentlich frühestens 2031 geendet. Dann aber, das sagen beide Seiten, gab es Meinungsverschiedenheiten über den Pachtzins. Das ist in der Regel ein fester monatlicher Betrag, den der gewerbliche Pächter an den Verpächter zahlen muss, ähnlich einer Miete und zusätzlich zu den Betriebskosten - meistens belegungsunabhängig.
Knapp 15 Jahre lang blieb dieser Pachtzins offenbar unverändert. Anfang 2021 forderte der Verpächter, das Paul-Gerhardt-Stift, dann deutlich mehr, heißt es von der Johannesstift-Diakonie. Um wie viel es dabei genau ging, wollen beide Seiten nicht sagen. Nur so viel: Die Erhöhung sei rechtlich zulässig gewesen, der mögliche Spielraum aber "voll genutzt" worden, heißt es von der Johannesstift-Diakonie. Durch die Forderung wäre "ein kostendeckender Betrieb nicht mehr möglich gewesen", sagt deren Sprecherin Lilian Rimkus. Was das angeht, stimmen die Darstellungen von Pächter und Verpächter überein. In mehreren anderen Punkten aber widersprechen sie sich.
Monatelang verhandelten beide Seiten, letztlich erfolglos. Nachdem die Gespräche über den Pachtzins im Laufe des Jahres 2021 gescheitert waren, so stellt es die Johannesstift-Diakonie dar, habe das Paul-Gerhardt-Stift den Wunsch geäußert, die Räume für andere Aktivitäten nutzen zu wollen. Ohne zu sagen, für welche. Die Sprecherin des Paul-Gerhardt-Stifts bestreitet das auf rbb|24-Anfrage. Fest stand zu diesem Zeitpunkt aber: Das Seniorenheim muss schließen. Die Verantwortung dafür weisen sich nun beide Seiten zu.
Die P & W Schillerpark wie auch das Paul-Gerhardt-Stift sind im Berliner Handelsregister als gemeinnützige Firmen eingetragen, sie müssen diese Gemeinnützigkeit im Gegenzug für Steuervorteile auch nachweisen. Sie dürfen keine Gewinne an Gesellschafter ausschütten und keine "Gewinnerzielungsabsicht" verfolgen - das unterscheidet sie von üblichen, privaten Firmen [gesetze-im-internet.de]. Alle Gewinne, so ist die Vorschrift, müssen "unmittelbar und selbstlos" für den Satzungszweck verwendet werden. Im Gesellschaftsvertrag, der im Handelsregister zu finden ist, steht: die Pflege und Betreuung der Bewohner.
Von Gewinnen aber war bei der P & W Schillerpark bald keine Rede mehr, sie konnte sich den Betrieb nicht leisten. Deshalb bat der Betreiber den Verpächter im Jahr 2021, den Vertrag Ende 2024 auslaufen zu lassen. Das Paul-Gerhardt-Stift sagt: Die Diakonie wollte als Ersatz ganz in der Nähe eine neue Einrichtung bauen, auf dem Gelände des Evangelischen Geriatriezentrums (EGZB) in Mitte. "Bis Ende 2024 sollte die Einrichtung fertig sein und ein Umzug erfolgen. Dieses wurde so vorab kommuniziert und im späteren Verlauf nicht umgesetzt", sagt die Sprecherin des Stifts rbb|24 am Freitag.
Die Sprecherin der Johannesstift-Diakonie bestreitet auf Nachfrage von rbb|24 einen konkreten Zusammenhang und bezeichnet diese Darstellung als "vermessen". Richtig sei, dass man in den vergangenen Jahren Neubauten an verschiedenen Orten Berlins erörtert habe, auch am EGZB. Dass daraus nichts geworden sei, "lag meistens an den hohen baulichen Anforderungen und den damit verbundenen Kosten, die einen Betrieb, der durch Pflegekassenbeiträge und Eigenanteile finanziert werden muss, nicht ermöglichen." Fest steht: Ein neues Heim kam nicht in Frage. Das alte wurde entmietet.
Bereits im Frühjahr 2022 wurden frei werdende Plätze an der Müllerstraße nicht mehr nachbesetzt. Mitarbeiter sahen sich nach neuen Jobs um und kündigten. Mit jedem Bewohner weniger wurde der Unterhalt defizitärer. Schon damals erhöhte die Diakonie den verbleibenden Seniorinnen und Senioren die Mieten, sie begründet das mit gestiegenen Personalkosten, Inflation und Energiepreisen. Tatsächlich beschloss die Bundesregierung, dass die Mindestlöhne in der Pflege bis Ende 2023 schrittweise deutlich steigen - das müssen am Ende Betreiber und Bewohner zahlen [tagesschau.de].
Im vergangenen Jahr stieg der Eigenanteil bei der stationären Pflege laut des Pflegeverbandes BPA um durchschnittlich 25 Prozent. Nach Auskunft des Kassenverbandes VDEK ist er heute so hoch wie nie zuvor. Gleichzeitig gab es in Deutschland noch nie so viele Pflegebedürftige, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden es noch deutlich mehr werden. Die Kosten sind inzwischen so hoch, dass immer mehr Menschen für ihre Pflege Unterstützung durch Sozialhilfe beantragen. Die deutliche Rentenerhöhung im vergangenen Jahr kann das bei Weitem nicht auffangen [tagesschau.de].
Im Sommer 2022 vereinbarten Pächter und Verpächter, das "Pflege und Wohnen Schillerpark" in zwei Etappen bereits bis Ende 2023 zu schließen. "Keiner möchte auf ein sinkendes Schiff", begründet die Diakonie-Sprecherin das nochmals vorgezogene Ende. Die Bewohner der oberen Etagen mussten bis Ende 2022 ausziehen.
Rechtlich haben sie dagegen kaum etwas in der Hand. Heimverträge werden in der Regel unbefristet geschlossen. Betreiber dürfen Bewohnern nur in Ausnahmefällen kündigen. Damit die Kündigung wirksam wird, muss eine sogenannte unzumutbare Härte vorliegen. Zum Beispiel, wenn der Betreiber pleite geht. Oder, wenn er - wie im Wedding - den Betrieb an einem bestimmten Standort einstellt, weil er wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist. Auch in einer ehemaligen Seniorenunterkunft in Potsdam ist das so passiert, der Betreiber machte Verlust. Die Räume wurden später auf der Plattform "Airbnb" angeboten.
In solchen Fällen haben Seniorinnen und Senioren als Bewohner keinen besonderen Schutz, nur eine Kündigungsfrist. Betreiber sind beispielsweise nicht dazu verpflichtet, einen Ersatzpflegeplatz zu finden. Sie müssen ihren Bewohnern aber üblicherweise eine Ersatzeinrichtung nennen und die Umzugskosten erstatten [verbraucherzentrale.de].
Man habe alle Bewohner seit Bekanntgeben der Entscheidung das Heim zu schließen bei der Suche unterstützt, sagt die Sprecherin der Johannesstift-Diakonie rbb|24. Die Umzugskosten innerhalb Berlins und Brandenburgs habe man übernommen. Allen sei angeboten worden, sofort in andere Einrichtungen des Betreibers umzuziehen. In Berlin sind das noch sechs weitere Vollzeit-Pflegeheime, in Brandenburg zwei [johannesstift-diakonie.de]. Aber keines davon liegt in der Nähe des Hauses im Wedding. Daher sei das Angebot nicht für alle Bewohner und Angehörige von Interesse, heißt es. In Wahrheit war es das nur für wenige. Viele hätten sich bereits selbst um Alternativen gekümmert, sagt die Diakonie.
Im Herbst 2022 beschloss das Paul-Gerhardt-Stift eigenen Angaben zufolge, in einem Teil des Hauses Geflüchtete unterzubringen. Erst nachdem klar geworden sei, dass der Vertrag mit dem Betreiber des Seniorenheims beendet werden würde, betont die Sprecherin. Dadurch habe man sich "mit dem absehbaren Leerstand" befassen müssen. Bereits seit 1989 seien Geflüchtete auf dem gleichen Gelände untergebracht, die Ausweitung sei wegen der "jahrzehntelangen Expertise" schlüssig gewesen.
Tatsächlich lebten zuletzt bereits 169 Geflüchtete in der Gemeinschaftsunterkunft "Refugium" im Haupthaus des Stifts. Nun wird sie erweitert - als letzte Runde dessen, was eine Mitarbeiterin der Senatsverwaltung für Soziales als "Verdrängungskarussell" bezeichnet: Denn die ukrainischen Familien, die im Februar 2023 in den oberen Etagen der früheren Pflegeeinrichtung eingezogen sind, lebten davor in einer Containerunterkunft in Reinickendorf. Die aber muss geplanten Sozialwohnungen weichen [entwicklungsstadt.de].
Dass sich kurzfristig die Option in der Müllerstraße bot, sei hilfreich gewesen, sagt die Sprecherin des Landesamtes für Flüchtlinge (LAF), Monika Hebbinghaus, rbb|24. Weil die neue Unterkunft nicht weit von der alten entfernt ist, könnten die umziehenden Schulkinder weiter ihre gewohnten Klassen besuchen. Dazu komme die Nähe zum zentralen Ankunftszentrum in der Oranienburger Straße.
Das LAF arbeitet nach eigenen Angaben seit Jahren mit dem Paul-Gerhardt-Stift zusammen. "Das angesprochene Objekt wurde dem LAF vor einigen Wochen als leer stehende Unterkunft von unserem Kooperationspartner angeboten", sagt Monika Hebbinghaus.
Zuerst hatte das Paul-Gerhardt-Stift behauptet, "auf Bitten des Landesamts für Flüchtlinge" gehandelt zu haben. Eine konkrete Bitte habe es nie gegeben, entgegnet die LAF-Sprecherin im Gespräch mit rbb|24. Dass das LAF aber gerade jede geeignete Wohnmöglichkeit für Geflüchtete brauchen kann, ist unstrittig: Berlins Unterkünfte sind aktuell zu 99 Prozent ausgelastet, nicht zuletzt durch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.
Hat sich das Paul-Gerhardt-Stift nun am neuen Mieter LAF bereichert? Die Sprecherin des Stifts weist das zurück, ebenso wie die Dachorganisation Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. "Diese Arbeit ist alles andere als eine Goldgrube. Vielmehr müssen wir uns als Landesverband immer wieder für eine auskömmliche Finanzierung einsetzen", sagt die Direktorin der Diakonie am Mittwoch. Zwei andere Heimbetreiber, die mit der Diakonie nichts zu tun haben und ebenfalls als gemeinnützige GmbH arbeiten, bezeichnen es im Gespräch mit rbb|24 als unwahrscheinlich, dass die Entscheidung aus finanziellen Motiven getroffen wurde.
Pro Bewohner und Tag zahlt das Landesamt für Flüchtlinge dem Stift nun eine Miete von etwa 25 bis 30 Euro. Diese nach Informationen von rbb|24 übliche Größenordnung bestätigt das Landesamt für Flüchtlinge auf Nachfrage. Macht im Monat zwischen 775 und 930 Euro pro Person. An dem Vorgang Beteiligte aus der Senatsverwaltung sagen rbb|24, der Vertrag mit dem Betreiber habe keinen Anlass zum Eindruck geboten, dieser sehe das Ganze als "Geldmaschine". "Das war preislich im unteren Drittel zu dem, was wir sonst so haben", sagt eine Quelle. Es gebe durchaus Anbieter, die Preise aufriefen, bei denen man sehr lange überlegen müsse, ob man das wirklich anfassen wolle. "Dieser hier hat definitiv nicht dazu gezählt."
Wieviel der Betreiber eines Seniorenheims pro Bewohner bekommt, lässt sich nicht vergleichbar pauschal sagen. Das hängt von Faktoren wie dem Pflegegrad ab, aber auch davon, wie hoch der Eigenanteil ist und wie lange der Bewohner oder die Bewohnerin schon in der Einrichtung lebt. Der Großteil der Senioren im "Pflege & Wohnen im Schillerpark" habe Grad 4 oder 5, heißt es vom Betreiber. Beim Pflegegrad 4 schießt die Pflegeversicherung in solchen vollstationären Einrichtungen pro Monat 1.775 Euro zu, beim Grad 5 sind es 2.005 Euro [pflege.de]. Dazu kommt der Eigenanteil des pflegebedürftigen Mieters. In Berlin sind das bei der vollstationären Pflege ohne staatliche Zuschüsse durchschnittlich 2.451 Euro [vdek.de].
Dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ende des Pachtvertrages und der späteren Unterbringung von Geflüchteten gibt, lässt sich nach jetzigem Stand durch nichts belegen. Dass etwa das Paul-Gerhardt-Stift Eigenbedarf für die Räumlichkeiten angemeldet habe, weist das Stift deutlich zurück; das wäre rechtlich auch nicht haltbar. Diese anfängliche Behauptung stellt auch die Johannesstift-Diakonie auf Nachfrage nicht mehr auf. Es sieht danach aus, als seien sich beide Seiten schlichtweg nicht mehr einig gewesen, ihre Geschäftsbeziehung fortzuführen.
Was daraufhin geschah, scheinen die Beteiligten medial unterschätzt zu haben. Beide Parteien versuchen, so der Eindruck, möglichst gesichtswahrend aus der Sache herauszukommen. Dass sie im Guten auseinandergehen, darf man bezweifeln. Für die Leidtragenden der ganzen Geschichte ist das auch nicht mehr entscheidend: Die Senioren und ihre Angehörigen müssen gegen Ende ihres Lebens noch einmal einen Umzug verkraften, weil sich Verpächter und Pächter nicht einigen konnten. Unabhängig davon, wer danach in diese Räume eingezogen ist. Wie die beiden unteren Etagen in Zukunft genutzt würden, sagt die Sprecherin des Stifts am Freitag, sei noch nicht entschieden.
Beitrag von Sebastian Schneider
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