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Interview | Streikwelle in Deutschland

"Die öffentliche Meinung ist wichtig in der Tarifauseinandersetzung"

Seit Wochen wird in Deutschland gestreikt - zumindest gefühlt. Politikwissenschaftler Thorsten Schulten erklärt, wieso es einen Unterschied zwischen gefühltem und realem Streikaufkommen gibt und wie sich die deutsche Streikkultur entwickelt.

rbb|24: Herr Schulten, ist Deutschland ein Streik-Land?

Thorsten Schulten: Also wenn Ihre Frage darauf abzielt, ob in Deutschland mehr gestreikt wird als in anderen europäischen Ländern: Da ist Deutschland eher im unteren Mittelfeld. Es gibt viele Länder, in denen deutlich mehr gestreikt wird, Frankreich ist glaube ich jedem bekannt. In einigen Ländern, wie Österreich zum Beispiel, wird aber noch weniger gestreikt als hier.

Grundsätzlich muss man aber erstmal sagen: Ja, Deutschland ist ein Streik-Land. Hier gibt es ein Recht auf Streik. Ich würde aber sagen, zu einer demokratischen Gesellschaft gehört das auch dazu, von daher ist es eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Im Vergleich ist es hier sogar etwas restriktiver, weil der Streik nur im Kontext von Tarifverhandlungen und von Gewerkschaften organisiert werden darf. Das ist zum Beispiel in Frankreich anders, da hat jeder Beschäftigte auch ein individuelles Streikrecht, das gibt es hier so nicht.

Zur Person

Besonders streikfreudig sind die Deutschen also traditionell nicht. Trotzdem wird in den letzten Monaten auffällig viel gestreikt. Woran liegt das?

Ich würde das "auffällig viel" gerne hinterfragen. Es gibt bei der Temperatur so etwas wie die gefühlte und die reale Temperatur. So ist es beim Streikaufkommen auch. Da gibt es das gefühlte Streikaufkommen, was derzeit so ist, wie Sie es beschreiben.

Wenn man das aber mit anderen Tarifrunden im öffentlichen Dienst aus der Vergangenheit vergleicht, ist es gar nicht so ungewöhnlich. Ich glaube, dieses gefühlt hohe Streikaufkommen hängt damit zusammen, dass die Streiks in Bereichen stattfinden, von denen die Bürgerinnen und Bürger besonders betroffen sind: der öffentliche Dienst, dann hatten wir zufällig – und das war wirklich ein Zufall – parallel die Auseinandersetzung bei der Post und jetzt kommt wohl nächste Woche noch die Bahn dazu.

Wenn zum Beispiel in der Metallindustrie gestreikt werden würde, wären daran wahrscheinlich sogar noch viel mehr Beschäftigte beteiligt, aber das kriegt im Alltag eben kaum einer mit, dass ein Maschinenbauunternehmen bestreikt wird.

Das reale Streikaufkommen, würden Sie sagen, ist also normal hoch?

Genaue Zahlen haben wir da natürlich noch nicht. Vielleicht kann man tatsächlich sagen: Ein bisschen mehr als zuvor wird gestreikt. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass wir es momentan mit einer besonders harten Verteilungsauseinandersetzung zu tun haben.

Die wiederum hat mit der hohen Inflationsrate zu tun. Es ist eine historische Ausnahmesituation. Bei diesen hohen Inflationsraten geht es auch darum: Wer trägt eigentlich die Kosten? Werden die bei den Beschäftigten abgeladen oder bei den Unternehmen? Und wie findet man einen vernünftigen Kompromiss über die Aufteilung der Kosten? Darum geht es und deswegen hat die Verteilungsauseinandersetzung eine besondere Schärfe. Das erklärt vielleicht, wieso zum Beispiel die Gewerkschaft Verdi gerade besonders massiv darauf drängt, ein gutes Ergebnis für die Beschäftigten zu erzielen.

Könnten wir nicht auch am Anfang eines Trends sein, der da wäre, dass sich die Streikkultur in Deutschland verändert und der Arbeitskampf mehr in Mode kommt?

Ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Viel hängt natürlich von den allgemeinen ökonomischen Rahmenbedingungen ab. Wenn sich die aktuelle Ausnahmesituation noch jahrelang hinziehen würde, dann könnte ich mir das vorstellen. Alle Prognosen, die wir von den Wirtschaftsforschungsinstituten haben, gehen aber davon aus, dass wir es ab 2024 oder 2025 wieder mit einer gewissen Normalisierung der ökonomischen Situation zu tun haben - wenn nicht wieder etwas weltpolitisch Außergewöhnliches oder Pandemisches passiert.

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt verändert sich allerdings auch: Es gibt einen Fachkräftemangel und damit eine Stärkung der Arbeitnehmer in den Verhandlungen um Jobs. Dazu verändert sich die Einstellung zu Arbeit und Leben – Stichwort Work-Life-Balance. Hat das nicht vielleicht auch einen Einfluss auf die Entwicklung der Streikkultur in der Zukunft?

Das kann ich mir durchaus vorstellen. Den Fachkräftemangel sieht man tatsächlich in vielen Branchen. Insbesondere im öffentlichen Dienst haben wir einige Studien darüber, dass in den nächsten Jahren sehr viele Angestellte in Rente gehen werden und ein massiver Bedarf da ist. Dieses Argument bringen auch die Gewerkschaften jetzt für ihre Forderungen: Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Branche attraktiv bleibt gegenüber der Privatwirtschaft. Da geht es um höhere Löhne, aber eben auch um solche Dinge wie Work-Life-Balance, wo sich die Bedingungen deutlich verbessern müssen.

Damit könnte auch zusammenhängen, dass es – so ist zumindest mein Eindruck – derzeit ein relativ hohes Verständnis für die Forderungen der Gewerkschaft gibt. Die Menschen wissen: Es geht nicht nur um die egoistischen Forderungen einzelner Gruppen, sondern darum, wie die Zukunft des öffentlichen Dienstes aussieht und wie die Arbeitsbedingungen da sind. Das ist eine ziemlich wichtige Sache, wie wir spätestens seit der Corona-Pandemie wissen. Insofern ist da schon was dran: Die Veränderung der Demografie spielt eine Rolle und stärkt die Verhandlungsposition der Arbeitnehmerseite.

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Trotzdem ist es bei allem Verständnis auch so: Wenn bei der Post, der Bahn, der Müllabfuhr oder in den Schulen und Krankenhäusern gestreikt wird, sind viele Menschen davon genervt. Ist es überhaupt clever von den Gewerkschaften solche Bereiche zu bestreiken, verspielen sie damit nicht Sympathien?

Na klar nervt das. Mich nervt es ja auch, wenn ich mit der Bahn irgendwo hinfahren will und dann wird gestreikt. Trotzdem gilt aber auch: Obwohl es einen individuell nervt, gibt es Umfragen zufolge eine hohe Unterstützung für die Forderungen. Die Sichtweise, hier gehe es nicht nur um die Forderungen einzelner Gruppen, sondern um ein funktionierendes System der öffentlichen Daseinsvorsorge, ist eben sehr plausibel. Und die Frage, wie die öffentliche Meinung diese Streiks bewertet – ob sie die gerechtfertigt findet oder nicht – spielt eine wichtige Rolle dafür, wie so eine Tarifauseinandersetzung läuft.

Letztendlich haben die Gewerkschaften aber auch keine andere Möglichkeit als den Streik im öffentlichen Dienst. Das Bundesarbeitsgericht hat mal in einem Urteil den öfter zitierten Satz verwendet: Eine Tarifverhandlung ohne das Recht auf Streik ist nichts anderes als kollektive Bettelei. Am Ende ist das Streikrecht eben auch das einzige Instrument, das die Beschäftigten haben, um einen Arbeitgeber der sich nicht bewegen will, doch noch zu bewegen.

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Wie weit sind wir denn derzeit schon auf der Streik-Eskalationsskala?

Man darf bei allem, was wir hier besprechen nicht vergessen: Das, was gerade passiert, sind ja eigentlich noch gar keine richtigen Streiks. Das sind erstmal nur Warnstreiks. Ein richtiger Streik wäre das, was zuletzt bei der Post beobachtet werden konnte – die Beschäftigten machen eine Urabstimmung, sagen, dass sie die Forderungen der Gewerkschaft und einen Streik unterstützen würden und dann ruft die Gewerkschaft zu einem unbefristeten Streik auf. In Deutschland kommt so ein unbefristeter Streik nur sehr selten vor. Große Flächenstreiks im öffentlichen Dienst hat es zuletzt Anfang der 1990er Jahre gegeben.

Und selbst bei der Post hat man ja gesehen: Nachdem diese Urabstimmung durchgeführt wurde und die Gewerkschaft die Bereitschaft für einen unbefristeten Streik hatte, hat der Arbeitgeber gesagt: Na gut, lass uns doch noch mal zusammen setzen, wir verbessern unser Angebot. Am Ende war das dann die Grundlage für einen Kompromiss.

Ich kann mir also vorstellen, dass die Gewerkschaften im Moment sehr bestimmt und deutlich diese Warnstreiks im öffentlichen Dienst machen, um den Arbeitgebern zu signalisieren: Die Beschäftigten stehen hinter unseren Forderungen. Das ist ein klares Signal an die andere Seite, ihr Angebot nochmal zu verbessern und dann sollte es aber auch möglich sein - wie bei der Post - ohne einen langfristigen Streik den Kompromiss zu finden.

Mal naiv gefragt: Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber verhandeln so regelmäßig miteinander. Beide Seiten kennen das Spiel und wissen, dass man letztlich einen Kompromiss finden muss. Wieso kommt es dennoch immer wieder zu Warnstreiks?

Am Ende steht dahinter auch ein harter Interessens- und Verteilungskonflikt. Das darf man nicht vergessen. Der ist in der Privatwirtschaft noch stärker, aber auch die öffentliche Hand hatte und hat in der Krisenpolitik hohe Ausgaben. Die öffentliche Verschuldung ist höher geworden - zumindest im Bund, in den Kommunen sieht es teilweise noch etwas besser aus. Von daher gibt es einen Konflikt um die vorhandenen Ressourcen und den darf man nicht unterschätzen.

Gewerkschaften stellen ihre Forderungen ja auch nach einer gewissen Logik, das ist nichts, was sich Funktionäre im Hintergrund ausdenken. Da gibt es einen relativ breiten Diskussionsprozess in den Tarifkommissionen, in denen Beschäftigte aus Unternehmen, von Behörden, Krankenhäusern und so weiter zusammenkommen und ihre Arbeitserfahrungen diskutieren. Auf dieser Grundlage wird in einem demokratischen Prozess eine Forderung erstellt.

Die Arbeitgeberseite ist tendenziell eher geneigt zu sagen: Wir wollen möglichst wenig geben. Was am Ende der richtige Kompromiss ist, ist offenbar eben nicht von Anfang an klar. Deswegen muss diese Frage austariert werden. Wenn die Arbeitgeber sich dabei zu wenig bewegen oder gar kein Angebot machen, dann entscheidet sich die Gewerkschaft eben im Zweifelsfall für Warnstreiks und in aller Regel bewegen sich die Arbeitgeber danach.

Bei der Post konnte ein unbefristeter Streik in einem systemrelevanten Unternehmen noch abgewendet werden. Denken Sie, dass wir so einen dennoch zeitnah erleben werden – vielleicht sogar im öffentlichen Dienst?

Das ist schwer zu sagen, auszuschließen ist es aber nicht. Beim öffentlichen Dienst wird es so sein: Wenn die Parteien sich jetzt nicht einigen sollten, dann werden sie erstmal eine Schlichtung machen. Im öffentlichen Dienst gibt es zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern eine Schlichtungsvereinbarung, die wird wohl auch genutzt. Wenn aber das Schlichtungsergebnis nicht akzeptabel für die Gewerkschaften sein sollte, wären echte Streiks nicht auszuschließen. Die Gewerkschaften bereiten sich darauf sehr gründlich vor und wären im Ernstfall in der Lage, einen solchen Arbeitskampf auch durchzuführen.

Angesichts der Schärfe des Verteilungskonflikts wird ein unbefristeter Streik diesmal auch eher für möglich gehalten als in vorherigen Tarifverhandlungen. Ich persönlich halte es aber für nicht sehr wahrscheinlich, dass es dazu kommen wird. Die innere Logik der Tarifverhandlungen in Deutschland ist einfach eine andere.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Simon Wenzel.

 

Sendung: rbb24 Inforadio, 24.03.2023

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