Analyse von Daten aus Berlin
Die Wohnungsnot in Berlin trifft zunehmend Menschen mit mittleren Einkommen, wie eine Datenanalyse von rbb24 Recherche ergibt. Die bisherige Förderpolitik konzentriert sich zu sehr auf arme Menschen, kritisieren Experten. Von Ute Barthel und Jana Göbel
Immobilienmaklerin Julia Gierszewski hat es geahnt: Nach nur wenigen Minuten nimmt sie die Wohnungsanzeige wieder aus dem Netz. Zweieinhalb Zimmer mit Balkon in Steglitz für 690 Euro warm. Günstige Wohnungen wie diese hat sie "vielleicht alle zwei Monate mal" im Angebot, wie sie sagt. Kaum ist die Anzeige online, ertönt ein Pling nach dem anderen. Nach zwei Minuten sind 40 Anfragen da, dazu klingelt unablässig das Telefon. Nach drei Minuten sind es 70 und nach fünf Minuten bereits 164 Anfragen. Mehr kann Julia Gierszewski vom Immobilienbüro Flächenwerk nicht bearbeiten, sie schaltet die Anzeige offline. "Wer das Angebot in diesen ersten fünf Minuten nicht gesehen hat, hat gar nicht mitbekommen, dass die Wohnung auf dem Markt war. So schnell geht das."
Noch am selben Tag trifft die Maklerin eine Vorauswahl. Nur zehn Mietinteressenten lädt sie zur Besichtigung ein. Eine der Glücklichen ist Daniela Winkler, Alleinverdienerin mit Teenager-Tochter. Sie arbeitet als "Praxismanagerin" bei einem Augenarzt, ihre Schmerzgrenze für die Miete liegt bei 800 Euro warm. "Es ist ein frustrierendes Gefühl, wenn man über 40 Stunden in der Woche arbeiten geht, und es am Ende dann nicht reicht für bescheidene zweieinhalb Zimmer."
Bei ihrer Suche macht sie die Erfahrung, dass es für Menschen wie sie kaum noch Angebote gibt. Für günstige Wohnungen braucht sie einen Wohnberechtigungsschein – doch dafür ist ihr Einkommen zu hoch. Und für die anderen Wohnungsangebote verdient sie einfach zu wenig, trotz Vollzeitstelle. Dazwischen gebe es nichts mehr. "Wo soll man denn hin? Ich will ja gern in Berlin bleiben", sagt Daniela Winkler. "Ich habe schon überlegt, nach Fürstenwalde zu ziehen, so wie Freunde von mir."
Nach einer exklusiven Datenauswertung und Berechnungen von rbb24 Recherche ist das Wohnungsangebot für die Mittelschicht in Berlin um ein Drittel eingebrochen. Wurden 2012 in Berlin noch etwa 75.000 Mietwohnungen für sogenannte mittlere Einkommen zur Neuvermietung angeboten, waren es 2021 nur noch rund 50.000.
Dabei können viele Berliner und Berlinerinnen mit mittleren Einkommen inzwischen auch höhere Mieten zahlen, denn Löhne und Gehälter sind stetig gestiegen.
Diese Einkommensentwicklung wurde in der Berechnung von rbb24 Recherche berücksichtigt, ebenso die gestiegenen Wohnnebenkosten kalt und warm. Für mittlere Haushaltsnettoeinkommen* lag die leistbare Mietobergrenze vor zehn Jahren noch bei 7,90 Euro / Quadratmeter kalt, inzwischen wären bis zu 12,40 Euro / Quadratmeter erschwinglich. Leistbar bedeutet, maximal 40 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens sollten für die Warmmiete ausgegeben werden. Diese Quote verwendet das europäische Amt für Statistik (Eurostat). Bei mehr als 40 Prozent setzt eine Überlastung ein.
Auch wenn sich viele Haushalte heute eine höhere Miete leisten könnten, es hilft nicht viel, wenn das Wohnungsangebot nicht reicht. Der Anteil der Mietangebote bis 12 Euro kalt je Quadrameter ging in Berlin immer weiter zurück.
Das hat das Institut Empirica bei der Auswertung von etwa hundert Wohnungsportalen für den rbb festgestellt. Noch vor zehn Jahren lagen fast alle Wohnungsangebote in Berlin unter 12 Euro kalt, heute ist es nur noch die Hälfte. Was einst als teuer galt, das wäre heute leistbar – ist aber nicht mehr zu haben. In der gleichen Zeit seien immer mehr Menschen aus dem In- und Ausland zugewandert, sagt Reiner Braun, Geschäftsführer von Empirica. Der Druck auf den Wohnungsmarkt sei dadurch noch mehr gestiegen. "Anfänglich waren nur Geringverdiener betroffen", so Braun, "inzwischen haben aber nicht nur Durchschnittsverdiener Probleme, in Berlin eine Wohnung zu finden, sondern sogar Gutverdiener."
Warum immer weniger Wohnungen für mittlere Einkommen entstehen, erklärt der Berliner Bauunternehmer Marcus Becker an einem praktischen Beispiel. Er zeigt auf einen Mietneubau in Neukölln, den das Unternehmen Kondor Wessels gerade errichtet. Noch stehen die Gerüste, doch der Innenausbau hat bereits begonnen. 137 neue Wohnungen entstehen hier, 44 davon sind Sozialwohnungen, mit staatlichen Fördergeldern runtersubventioniert auf 6,60 Euro pro Quadratmeter kalt.
"Jeder weiß: Dafür kann man in Deutschland keine Wohnungen mehr bauen", sagt Becker. "Wir brauchen mindestens 12 bis 14 Euro, inzwischen auch wegen der steigenden Zinsen. Und wenn wir die Auflage kriegen, 30 Prozent dieser Wohnungen für 6,50 Euro oder 7 Euro zu vermieten, dann fällt dieses mittlere Segment um die 12 Euro komplett aus. Wir müssen also für die restlichen Wohnungen in diesem Haus mehr als 15 oder 16 Euro nehmen."
Becker zeigt eine der fast fertigen Wohnungen, drei Zimmer, Küche, Bad, Balkon, an den Fenstern hängen durchsichtige Schutzplanen. Die 75 Quadratmeter kosten 1.200 Euro kalt. Nur durch diese hohen Mieten der freifinanzierten Wohnungen, können Investoren den vom Land Berlin geforderten Anteil von Sozialwohnungen in dem Gebäude kompensieren, damit es sich insgesamt rechnet.
Für Normalverdiener würde zurzeit so gut wie nichts gebaut in Berlin, sagt Becker, der auch Vizepräsident des Bauindustrieverbandes Ost ist. Eine neue Förderpolitik für die Mittelschicht müsse her.
Das sieht auch Hinrich Holm so, Vorstandsvorsitzender der Investitionsbank Berlin. Er schlägt vor, dass die Fördergelder für den Sozialen Wohnungsbau neu aufgeteilt werden, so dass mehr Berlinerinnen und Berliner mit mittleren Einkommen davon profitieren. 740 Millionen Euro habe das Land Berlin pro Jahr im Wohnungsförderprogramm. Das reiche entweder für 10.000 bis 15.000 neue Wohnungen mit 6 bis 8 Euro Kaltmiete je Quadratmeter oder für 20.000 Wohnungen, wenn ein Teil für 10 bis 12 Euro kalt je Quadratmeter dabei sei, erklärt Holm.
Berlin habe ein hervorragendes Wirtschaftswachstum. "Wir müssen Wohnraum schaffen, damit die Leute hier wohnen können", sagt er, "wenn das nicht funktioniert, besteht die Gefahr, dass wir das Wachstum bremsen." Er plädiert deshalb für einen dritten Förderweg für Wohnungen für die Mittelschicht.
Tatsächlich steht im neuen Koalitionsvertrag: "Wir führen ein drittes Fördermodell für mittlere Einkommen ein." Bisher gibt es einen ersten Förderweg für Menschen mit geringem oder gar keinem eigenen Einkommen mit Einstiegsmieten von 6,60 Euro je Quadratmeter kalt. Der zweite Förderweg ist für Mieterinnen und Mieter, deren Einkommen knapp darüber liegen. Da liegen die Mieten bei 9 Euro je Quadratmeter kalt. Ein dritter Weg könnte für Neubauwohnungen von 10 Euro und mehr entstehen.
Nach Informationen von rbb24 Recherche wird in der Senatsverwaltung bereits daran gearbeitet. Dies sei notwendig, "da immer mehr auch mittlere Einkommen Schwierigkeiten haben, sich auf dem Wohnungsmarkt mit Neubauwohnungen zu versorgen", antwortet die Verwaltung auf rbb-Anfrage. Die wohnungspolitische Sprecherin der Berliner SPD, Sevim Aydin, betont, dass dabei die unterschiedlichen Einkommensgruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen.
Ulrike Hamann vom Berliner Mieterverein mahnt dennoch zur Vorsicht. Man sollte gut überlegen, ob man wirklich Fördergelder für relativ teure Einstiegsmieten von 10 Euro oder sogar mehr ausgeben will. Sie sieht die Gefahr, dass Investoren dann vor allem für das mittlere Preissegment bauen werden. Man müsste sie deshalb dazu verpflichten, auch weiterhin einen bestimmten Anteil an preiswerten Wohnungen zu bauen.
Hamann sieht aber auch, dass die Mittelschicht kaum noch Wohnungen findet in Berlin. "Wir kennen das Problem, dass Menschen in die Armut rutschen, das wird dann womöglich auch bis in die Mittelschicht reichen, weil man eben sehr viel mehr für Wohnen ausgibt, als sich der Haushalt eigentlich leisten kann."
Vor etwa zehn Jahren wurde in Berlin erkannt, dass es immer weniger Sozialwohnungen gibt, obwohl diese dringend benötigt wurden. Doch bis neue Maßnahmen beschlossen und umgesetzt werden, vergeht viel Zeit. Bis heute ist das Defizit nicht ausgeglichen. So wird es wohl auch bei den dringend benötigten Wohnungen für Normalverdiener sein. Bis neue Förderstrukturen beschlossen sind und greifen, wird sich die Lage vielleicht sogar noch weiter verschärfen.
Für die Wohnungssuchenden, die sich bei Julia Gierszewski gemeldet haben, kommt die neue Förderausrichtung sowieso zu spät. Von den 164 Bewerbern für die 690 Euro-Wohnung in Steglitz wird einer das Rennen machen. 163 suchen weiter.
Sendung: rbb24 Inforadio, 19.04.2023, 6 Uhr
Beitrag von Ute Barthel und Jana Göbel, rbb24 Recherche, Mitarbeit Götz Gringmuth-Dallmer
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