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Video: rbb24 Abendschau | 11.09.2023 | Y. Speck | Quelle: rbb/Max Ulrich

"NEETs" in Berlin und Brandenburg

Jung, orientierungslos, sucht: Job

Wenn Jugendliche nach der Schule nicht arbeiten, studieren oder ein Praktikum machen, heißt das nicht unbedingt, dass sie einfach nur chillen. Viele von ihnen kämpfen mit Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst. Von Max Ulrich

Abdulmalek Smaeisem bläst eine große Rauchwolke aus seiner Shisha in den Sonnenuntergang am Tegeler See. Es ist ein herrlicher Spätsommerabend. Der 22-Jährige sitzt auf einem Campingstuhl auf einer kleinen Wiese direkt am steinigen Ufer und lächelt. Drei Jahre lang war er fast täglich hier und schlug die Zeit tot. Drei Jahre lang war er immer wieder ein sogenannter NEET.

NEET heißt "Not in education, employment or training". Also Jugendliche die weder in der Schule, in einem Job oder in einer Ausbildung oder Praktikum sind. Seit den 90ern werden NEETs in vielen Ländern statistisch erfasst, um eine alternative Größe zur Jugendarbeitslosenquote zu haben. Denn als NEET zählt auch, wer sich nicht arbeitslos meldet. In Brandenburg waren 2022 6,9 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren NEET. In Berlin waren es 9,5 Prozent.

Das Vorurteil vom faulen Hänger

Den ganzen Tag frei, Netflix und chillen, so das Klischee. Doch die wenigsten NEETs sind freiwillig untätig. Für sie heißt NEET sein: Orientierungslosigkeit, Zukunftsängste, Selbstzweifel - auch für Abdulmalek. Nach dem Hauptschulabschluss 2019 fand er keine Ausbildung. Sein Zeugnis war damals wie sein Deutsch: Nicht besonders gut.

Abdulmalek Smaeisem | Quelle: rbb/Max Ulrich

"In dieser Zeit, wo es mir nicht gut ging, habe ich mich gefragt: Warum bin ich nicht so gut wie die anderen? Was können die anderen besser als ich? Manchmal habe ich mir gewünscht, ich wäre wieder in Syrien. Denn da sprechen die Leute arabisch, so wie ich." Er konnte nicht schlafen, hatte Albträume, wollte etwas machen, doch fand nichts Festes. "Bis 2022 war ich viel unterwegs. Ich habe das eine gemacht und dann wieder abgebrochen. Dann das nächste. Wieder abgebrochen. Jeder Tag bestand aus: Suchen, Suchen, Suchen." Er bekam nur Gelegenheitsjobs als Paketbote oder Koch. Eine Ausbildung oder ein Job mit Perspektive waren nicht dabei.

Die Zeit mit diesen NEET-Phasen war für Abdulmalek keine gute Zeit. Wie die meisten NEETs zermürbte ihn die Frage "Was soll aus mir werden?" Die unterschiedlichen Behörden, Bildungswege und Anforderungen haben ihn, wie viele Geflüchtete und Migranten, überfordert.

Jobberater der Arbeitsagentur: Lajos Eric Balogh | Quelle: rbb/Yasser Speck

Berufliche Orientierung fehlte während Corona

"NEETs sind keine Hänger", sagt Lajos Eric Balogh, Berufsberater bei der Jugendberufsagentur Berlin. Die Gründe, warum jemand NEET ist, seien sehr unterschiedlich. Eine der größten Gruppen seien neben Geflüchteten wie Abdulmalek junge Mütter sagt Bolagh. "Eine junge Mutter muss zwei Dinge beachten: Die Ausbildung im Betrieb kann man in Teilzeit machen aber der schulische Teil ist immer in Vollzeit. Und das ist für Mütter eine Herausforderung."

Eigentlich gehen die Zahlen der NEETs in Deutschland seit 15 Jahren zurück. Doch während der Corona -Pandemie stiegen sie wieder an. "Es fehlte die berufliche Orientierung während der Corona-Jahre. Da durften wir nicht an die Schulen", sagt der Berufsberater. "Und es fanden auch keine Job-Messen statt. Zum Glück können wir nun die Beratungsangebote wieder wie auf Vor-Corona-Niveau flächendeckend anbieten. Wir sind jetzt sogar noch früher in den Klassen präsent."

Nicht in Arbeit oder Ausbildung

"Es ist ein Klischee, dass diese jungen Menschen faul sind"

Wie umgehen mit jungen Menschen, die weder zur Schule gehen, noch eine Ausbildung oder einen Job haben? Der Wissenschaftler Christian Brzinsky-Fay hat sich mit der Gruppe auseinandergesetzt. Er sagt: Druck sei meist kontraproduktiv.

Die Übergang überfordert viele

Der Übergang von Schule zu Berufsleben überfordere viele, sagt Balogh "Das ist die erste große Entscheidung im Leben. Und sie haben über 300 Ausbildungsberufe zur Auswahl. Die jungen Menschen verbinden das dann immer gleich mit einer Lebensentscheidung." Balogh hört in der Berufsberatung oft den Satz "Ich suche mir ja einen Job, den ich mein Leben lang machen will." Balogh erklärt Ihnen dann, dass die Ausbilung nur der Einstieg ins Berufsleben ist und man sich noch ganz oft im Berufsleben umorientieren kann.

Viele Jugendliche schweben dann in einem luftleeren Raum. Manche nehmen sich nach der Schule auch erstmal eine kurze Auszeit. Schon nach vier Wochen gilt man dann statistisch als NEET.

Genau in dieser Zeit kann man sich an die Jugendberufsagenturen wenden – und das tun offenbar viele: "Es ist eine unheimliche Nachfrage an Beratung da", sagt Balogh. "Jugendliche wollen eine Ausbildung machen und viele haben sich schon beworben." Bolagh ist Optimist: Er glaube, dass jeder mit der richtigen Berufsberatung auch seinen Traumjob finde, sagt er.

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Produktionsschule in Wriezen

"Es ist vollkommen egal, wie langsam Du vorankommst. Du überholst immer noch jeden, der gar nichts tut" steht im Treppenhaus der Produktionsschule Wriezen - betrieben wird sie von der kirchlichen Stephanus-Stiftung, das Land Brandenburg finanziert mit.

"Lass Dich nicht unterkriegen, sei frech, wild und wunderbar." steht im Frühstücksraum. Optimismus auch hier. Und den braucht es auch.

Wriezen liegt am Rand des Oderbruchs. "Westpolen" sagen sie hier lachend oder "Weltstadt Wriezen". Die wirkliche Weltstadt Berlin mit ihren über 300 Ausbildungsberufen ist eine Ewigkeit entfernt. Und die Azubi-Jobs im Oderbruch sind für die 16 Jugendlichen der Produktionsschule noch weiter weg als Berlin. Die jungen Frauen und Männer haben keinen Schulabschluss, manche von ihnen haben jahrelang die Schule geschwänzt. Auch sie sind NEETs.

Dustin in der Produktionsschule Wriezen | Quelle: rbb/Max Ulrich

Viel Frustration im Gepäck

Wer hier herkommt, komme mit einer Menge Frustration im Gepäck sagt Werkstattpädagoge Björn Reinicke, der die Holzwerkstatt leitet. "Sie kriegen von überall gesagt: Ihr werdet nie was erreichen. Viele trauen sich schon gar nicht mehr irgendwas zu machen. Was am Werkstück mit dem Bleistift anzuzeichnen oder die Uhr abzulesen."

Einer von ihnen ist der 18-jährige Dustin. In seiner Kindheit erfährt er Gewalt, seine Mutter gibt ihn mit acht Jahren ins Heim. Schließlich holt ihn sein Vater zu sich. Das alles wirkt sich auf Dustins schulische Leistungen aus. "Das war schon schlimm. Ich bin halt nicht mit dem Stoff mitgekommen, der damals nötig war." Dustin geht nicht zum Unterricht, fällt durch die Prüfungen und weiß über ein Jahr lang nicht, was aus ihm werden soll. "Ich habe nicht mehr an mein Leben geglaubt. Die Chancen waren niedrig, dass ich nochmal einen Job oder eine Ausbildung kriege."

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Hier gibt es die dritte Chance

In der Produktionsschule kriegen die Jugendlichen eine sogenannte "dritte Chance" erklärt Björn Reinicke. Denn viele hätten schon oft im Leben ihre sprichwörtliche "zweite Chance" verbockt. Sowohl in der Schule, als auch im Berufsleben. "Eigentlich braucht man nur Verständnis. Niemanden in die Schublade schieben. Den jungen Leuten sagen: Ihr seid was wert! Ihr könnt das!", sagt Reinicke.

Die Jugendlichen machen an der Produktionsschule keine Ausbildung. Sie lernen vor allem, dass sich das frühe Aufstehen auch lohnen kann. Heute bauen sie einen Stehtisch aus Holz mit klappbaren Seitenteilen und einem integrierten Müllfach. Sie haben ihn hier komplett designend. Der Auftraggeber ist die Stadt Wriezen. Auf Stadtfesten und Weihnachtsmärkten werden die Tische bald stehen. Stolz spiegelt sich in Dustins Augen, als er und seine Kollegen die ausgesägten Bretter zu einem weiteren Stehtisch zusammenschrauben.

Wege aus der Orientierungslosigkeit

Abdulmalek und Dustin sind zwei sehr unterschiedliche junge Männer - mit dem gleichen Problem. Den oder die typische NEET gibt es nicht. Und auch die Wege aus der Orientierungslosigkeit sind sehr unterschiedlich.

Dustin wird noch ein weiteres Jahr in der Produktionsschule Wriezen bleiben und dann darauf hoffen, dass ihm ein Betrieb eine Chance zur Ausbildung gibt. Abdulmalek schaut sich mittlerweile seinen Lieblingsort von oben an. Er macht eine Ausbildung zum Geovisualisierungsassistenten an der Ernst-Litfaß-Schule. Sein aktuelles Projekt: Eine Landkarte vom Tegeler See.

Anschauen auf Youtube: Azubi-Mangel: "Eine Ausbildung wurde immer als etwas Negatives dargestellt" | rbb|24 explainer

Sendung: rbb24 Abendschau, 11.09.2023, 19.30 Uhr

Beitrag von Max Ulrich

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