Gastronomie in der Dauer-Krise
Erst Corona-Lockdown, dann Inflation, permanenter Personalmangel und nun die drohende Mehrwertsteuererhöhung: Die Gastronomie hangelt sich von einer Krise zur nächsten. Restaurants und Kneipen sorgen sich um ihre Zukunft. Von Karsten Zummack
Küchenchef Mirko Sickel rührt gerade Semmelbrösel mit Butter zusammen. Neben ihm stehen auf der Ablage bereits eine Martinsgans sowie als Füllung Orangenscheiben und Apfelstückchen. "Wir bereiten jetzt das À-la-carte-Geschäft vor", erklärt der Koch. Es ist mitten in der Woche kurz vor 12 Uhr. Im Gasthof "Zum Oberfeld" in Berlin-Kaulsdorf ist zu dieser Zeit wenig Andrang.
Ohnehin hat sich das Geschäft durch die Inflation und die allgemeine Unsicherheit der Verbraucher etwas abgeschwächt. "Die Leute halten das Geld zusammen, das schlägt voll durch", bilanziert Restaurantchef Michael Hübner. Im Oktober sei der Umsatz im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum um 20 Prozent zurückgegangen. Der 50-Jährige beobachtet, dass viele Stammgäste seltener kommen.
Gleichzeitig steigen allerdings die Kosten. Das drückt mächtig auf die Margen. 1989, kurz vor der Wende, hat Hübners Familie das Restaurant gekauft. Auf der Speisekarte steht vor allem deutsche Küche: Gänsekeule mit Thüringer Klößen, Wildgulasch, Schweinemedaillons, Bandnudeln mit Waldpilzen. Passend dazu wurde das Interieur gestaltet, mit alten Holzmöbeln und Sofas. In den Regalen türmen sich stilecht Nähmaschinen, Krüge, Kannen, Uhren, ein Grammophon.
In Konkurrenz zu den vielen italienischen und asiatischen Restaurants, die sich überall in Berlin etabliert haben, kann Hübner mit dem Altberliner Flair punkten. Touristen verirren sich zwar selten nach Kaulsdorf. Doch in der näheren Umgebung genießt der Gasthof "Zum Oberfeld" einen guten Ruf. 2019 hatte das Haus sein "bestes Geschäftsjahr", sagt der Wirt. Doch dann ereilte ihn erst die Corona-Pandemie mit Auflagen und Schließungen, ohne Atempause danach die nächsten Probleme. Michael Hübner wähnt sich im "Dauerkrisen-Modus". Das Niveau von 2019 ist derzeit nicht in Sicht.
Glück im Unglück: Das 20-Mitarbeiter-Unternehmen muss keine Miete zahlen, Hübner ist Eigentümer. Trotzdem hat auch er immer mal wieder überlegt, wie und ob es weitergeht mit seinem Gastronomiebetrieb. Doch Aufgeben kommt derzeit nicht in Betracht — auch wenn nun der nächste Nackenschlag droht. Die Mehrwertsteuer für die Versorgung in der Gastronomie, nach Beginn der Corona-Krise gesenkt, soll am 1. Januar wieder von 7 auf 19 Prozent steigen. "Das ist einfach heuchlerisch und verlogen", schimpft der Kaulsdorfer Gastwirt. Schließlich hatte der jetzige Bundeskanzler Olaf Scholz noch im Wahlkampf 2021 versprochen, den Steuersatz beizubehalten.
Trotz aller Proteste hat die Ampelkoalition nun die Rolle rückwärts beschlossen. Schließlich verlor der Staat durch die Reduzierung jährlich etwa 3,4 Milliarden Euro an Einnahmen. Im kommenden Jahr soll also die Mehrwertsteuer auf Speisen in Restaurants und Cafés auf den alten Satz steigen. Dann wird Gastronom Michael Hübner ebenso wie die meisten seiner Kollegen die Steigerung wohl 1:1 an die Gäste weitergeben müssen. Die damit verbundene Sorge: Womöglich meiden dann noch mehr Menschen den Gang ins Restaurant. Doch anders geht es nicht, um wirtschaftlich überleben zu können.
Und so macht mal wieder das Wort "Restaurantsterben" die Runde. Bereits in den ersten beiden Pandemiejahren wurden bundesweit 36.000 steuerpflichtige Unternehmen geschlossen, rechnet der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) hoch. Diese Entwicklung könnte sich fortsetzen. Einer Umfrage aus dem Herbst zufolge sind 12.000 weitere Gastronomiebetriebe akut gefährdet. Die geplante Mehrwertsteuererhöhung könnten die womöglich nicht überleben. "Das wäre fatal für Innenstädte und die Attraktivität des ländlichen Raums", warnt Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges.
Keineswegs nur höhere Steuern und die Inflation machen der Branche zu schaffen. Seit Jahren bereits leidet die Gastronomie auch unter einem massiven Fachkräfte- und Personalmangel. Max Golde kann ein Lied davon singen. Er betreibt in Neuruppin das Hotel-Restaurant "Altes Kasino", idyllisch an der Uferpromenade des Ruppiner Sees gelegen. An Gästen mangelt es nicht. Doch der 37-Jährige findet seit geraumer Zeit keine Mitarbeiter mehr, um sie zu bedienen. Anzeigen in den sozialen Medien blieben ebenso erfolglos wie Aushänge am Haus.
"Jeder guckt nach seiner bestmöglichen Work-Life-Balance. Das ist nachvollziehbar", urteilt Golde. Allerdings könne er ein Hotel, das sieben Tage pro Woche von 7 bis 22 Uhr Schichten abzudecken hat, nicht so weiterführen. Deshalb hat er sich nach gründlicher Überlegung entschlossen, das Haus umzustrukturieren. Es gibt hier zwar weiterhin Frühstück und den Sonntagsbrunch. Auch Familienfeiern wird das "Alte Kasino" durchführen. Das klassische À-la-carte-Geschäft jedoch wurde zum 1. Oktober eingestellt. "Wir haben einen planbaren Absprung geschafft", sagt Max Golde nicht ohne Wehmut in seiner Stimme. Eine Alternative hat er aber nicht mehr gesehen für sein Unternehmen.
Vielleicht liegt eine Antwort auf den latenten Personalmangel auch in neuen technologischen Lösungen. "Happy Birthday to you", schmettert Anna Gästen des Restaurants "Anna Amalia" in Potsdam entgegen. Anna ist ein Serviceroboter und verrichtet am Rand der Landeshauptstadt ihren Dienst. Im Oberkörper befinden sich Ablageregale, um das Essen zu den Tischen zu rollen. "Anna soll Beschäftigte nicht ersetzen", darauf legt Restaurantchef Dieter Lübberding großen Wert. Viel mehr geht es ihm darum, die Kellnerinnen auch körperlich zu entlasten. Sie sind am Tisch schließlich immer mit dabei. Doch wer weiß, wie sich solche Roboter noch weiterentwickeln? Es gibt auch Lokale, in denen sie tatsächlich schon Lücken im Dienstplan stopfen.
Für Lübberding kommt das im Moment nicht in Betracht, zumal er nach eigener Aussage noch keine Personalsorgen kennt. Viele seiner 18 Beschäftigten stammen aus Indonesien. Internationale Vernetzung sei das "A und O in der Gastronomie". Darüber hinaus seien Anreize nötig. "Wenn sie ein Fahrrad brauchen, kriegen die Mitarbeiter ein Fahrrad. Eine gute Bezahlung ist sowieso selbstverständlich", erklärt der "Anna Amalia"-Chef.
Die bevorstehende Mehrwertsteuer-Erhöhung allerdings wird auch sein Restaurant spüren. Die ganze Branche schlägt Alarm.
Der Kaulsdorfer "Zum Oberfeld"-Betreiber Michael Hübner vergleicht seine Zunft mit einem Kranken. "Wenn der noch eine zusätzliche Krankheit dazu bekommt, wird es schwierig", sagt der Gastronom.
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.11.2023, 06:05 Uhr
Beitrag von Karsten Zummack
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