Arbeitszeit bei Bahn-Unternehmen
Der private Eisenbahnanbieter Netinera macht möglich, was die Deutsche Bahn bisher ablehnt: eine 35-Stunden-Woche im Schichtdienst - bei vollem Lohnausgleich. Netinera hofft, so Nachwuchs in die Branche locken zu können. Von Anke Hahn
Als am 8. Dezember der Warnstreik der Lokführergewerkschaft GDL den Verkehr der Deutschen Bahn (DB) fast vollständig lahmlegte, fuhren die Züge der Netinera GmbH weiter. Auch sie hatten mit Verspätungen zu kämpfen, Züge fielen vereinzelt aus, weil es Probleme auf der von der Deutschen Bahn betriebenen Strecke gab. Aber für Fahrgäste waren Netinera-Töchter wie die Odeg, Metronom oder Erixx deutlich berechenbarer als die Konkurrenz von der DB. Sie wurden nicht bestreikt, denn schon am 8. Dezember war klar: Netinera will der GDL entgegenkommen und ist bereit, die Arbeitszeit ihrer Schichtdienstleistenden stufenweise abzusenken.
Der nun unterschriebene Tarifvertrag sieht bei Netinera für Schichtarbeiter die 35-Stunden-Woche ab 2028 vor. Außerdem wird zugesichert, dass pro Woche nur fünf Schichten gearbeitet werden, dann müssen zwei freie Tage folgen. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heißt das: Ihre Arbeitszeit wird gesundheits- und familienfreundlicher. Die Tätigkeit als Lokführerin oder Zugbegleiter verlangt viel von den Frauen und Männern. Die Arbeitszeiten sind extrem unregelmäßig, beginnen 4 Uhr morgens oder dauern bis in die späte Nacht, oft gibt es nur einzelne freie Tage statt eines Wochenendes. Das macht den Beruf wenig attraktiv für Nachwuchs, obwohl er gar nicht so schlecht bezahlt wird.
Fachkräfte aber fehlen in den Eisenbahnunternehmen wie überall in der deutschen Wirtschaft. Der Fachkräftemarkt ist entsprechend umkämpft und bei den jungen Leuten steht das Thema Work-Life-Balance ganz oben im Forderungskatalog. Das Kalkül der GDL - und nun auch von Netinera: Die 35-Studen-Woche könnte ein Argument sein, jungen Menschen einen Job bei einem Eisenbahnunternehmen schmackhaft zu machen. Das sei für die Unternehmen zwar erst einmal teuer, aber am Ende wirtschaftlicher, als Aufträge zu verlieren, weil nicht genügend Personal vorhanden sei, sagt Netinera.
Die Deutsche Bahn rechnet anders. Auch sie leidet unter Personalmangel, hat jetzt schon Probleme, alle Schichten zu besetzen. Dazu kommt, dass in den nächsten fünf bis zehn Jahren Zehntausende in den Ruhestand gehen. Wenn nun die Verbliebenen auch noch weniger arbeiteten, werde der Mangel noch größer, sagt DB-Personalvorstand Martin Seiler. Zehn Prozent mehr Menschen bräuchte die Deutsche Bahn allein dafür dann zusätzlich. Das sei weder zu organisieren noch zu finanzieren.
Privatbahnen wie Netinera seien nur regional unterwegs und auch deutlich kleiner als die Deutsche Bahn, so Seiler. Was bei denen gerade noch funktioniere, sei für einen Großkonzern eben nicht möglich. Eine Senkung der Arbeitszeit mit Lohnausgleich sei nicht realistisch und deshalb werde darüber nicht verhandelt.
Netinera betreibt in mehreren Bundesländern Regionalbahnstrecken. Zu der Gruppe gehören beispielsweise Metronom oder die Odeg in Brandenburg. Die Unternehmensgruppe beschäftigt nach eigenen Angaben bundesweit mehr als 1.200 Triebfahrzeugführer und knapp 1.100 Zugbegleiter.
Zudem weist die DB darauf hin, dass es bereits jetzt die Möglichkeit gebe, die Wochenarbeitszeit individuell abzusenken. Bis 35 Stunden sind möglich - allerdings ohne Lohnausgleich. Dieses Angebot würden aber nur ganz wenige Mitarbeiter in Anspruch nehmen. Es gebe offensichtlich keinen Bedarf, schlussfolgert Seiler.
Dem widerspricht die GDL vehement. Auch wenn zum Beispiel erfahrene Lokführer zwischen 44.000 und 53.000 Euro brutto pro Jahr verdienten, könnten die wenigsten auf das Geld verzichten, das eine Absenkung der Arbeitszeit mit sich bringen würde. Dennoch würden die allermeisten sehr gern weniger arbeiten, weil sie durch unregelmäßige Arbeitszeiten, lange Schichten und die oft nicht vorhandene Planbarkeit ihrer Dienste überanstrengt seien. Der Krankenstand sei hoch, weil der Stress die Widerstandskraft schwäche.
Zudem sei der Beruf so auch nicht attraktiv für junge Menschen. Und das sei schade, denn eigentlich könnten sich nach wie vor viele Jugendliche vorstellen, eine Lok zu fahren oder einen Zug zu begleiten. Deshalb beharrt die GDL auf Gespräche über die 35-Stunden-Woche - auch in der Tarifauseinandersetzung mit der Deutschen Bahn. Das Argument, die Forderung sei unrealistisch, lässt sie nicht gelten. Denn der Personalnotstand sei ja bereits jetzt vorhanden und offensichtlich schaffe es das Management nicht, ausreichend neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Es sei notwendig, neue Wege zu gehen, statt in alten Positionen zu verharren.
Wirtschaftswissenschaftler stimmen dem nur teilweise zu. Neue Wege bei der Personalgewinnung seien dringend nötig, da habe die GDL schon recht - aber eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich könne die Bahn derzeit finanziell nicht leisten. Damit es nicht zu teuer wird, müssten Arbeitszeitverkürzungen eigentlich immer mit Produktivitätssteigerungen einhergehen und das sei bei Lokführern oder Zugbegleiterinnen gar nicht möglich, heißt es. "Da es im Schienenverkehr naturgemäß darum geht, bestimmte Zeiten abzudecken, ist schwer nachvollziehbar, wie das durch kürzere Arbeitszeiten effizienter werden sollte", sagt zum Beispiel Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg.
Eine Flexibilisierung der Arbeitszeit aber hält Weber für eine gute und wichtige Strategie, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein. Den Beschäftigten sollte die Möglichkeit geboten werden, ihre Schichten je nach persönlichem Bedürfnis planen zu können. Kurzfristig in den Wochenarbeitszeiten oder auch langfristig über Jahre und nach Lebenssituation gerechnet.
Martin Klaffke von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) sieht das genauso. Er ergänzt, dass es oft gar nicht nur um Geld gehe bei der Werbung neuer Mitarbeiter. Viel wichtiger sei eine Atmosphäre der Motivation und Wertschätzung im Unternehmen, die den Beschäftigten das Gefühl vermittele, ihre Arbeit sei wichtig.
In die gleiche Richtung argumentiert auch Alexander Eisenkopf von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Die Bahn trage eine Mitschuld an der prekären Personallage, sagt er. "Wer will schon bei einem Unternehmen arbeiten, das ständig in den negativen Schlagzeilen ist und zum Beispiel als Zugbegleiter oder an den Servicestellen alltäglich dem Frust der Kunden ausgesetzt sein?" Die Bahn müsse an ihrem Image arbeiten, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein. Sie müsse einfach eine bessere Qualität anbieten, dass Mitarbeiter stolz auf ihren Arbeitsplatz sein können.
Die 35-Stunden-Woche allein könne dieses Problem nicht lösen. Und auch die Härten der Schichtarbeit seien nicht wegzuargumentieren. Martin Klaffke von der HTW rät: Die Bahn solle bei der Personalgewinnung nicht nur auf die ganz Jungen setzen, die schreckten Nachtschichten und Wochenenddienste im Moment noch ab. Für diese Generation liege die Betonung der Work-Life-Balance klar auf "Life". Besser sei es zum Beispiel, Menschen anzusprechen, die in anderen Branchen unzufrieden seien, oder Frauen nach der Familienzeit als Mitarbeiterinnen zu gewinnen. Umschulung und Weiterbildung seien zukunftsträchtiger aus Sicht der Unternehmen. Für die bereits vorhandenen Beschäftigten dagegen sei es sicher eine gute Sache, weniger arbeiten zu müssen. Allerdings müsse sich der Arbeitgeber das auch leisten können.
Sendung: rbb24, 14.12.2023, 16 Uhr
Beitrag von Anke Hahn
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