Interview | Geschäftsführer Jobcenter Berlin Mitte
Zum Jahresanfang ist das Bürgergeld um etwa zwölf Prozent angehoben worden. Immer wieder wird Kritik laut, das senke die Motivation zu arbeiten. Im Interview spricht Lutz Mania vom Jobcenter Berlin Mitte über Arbeitsverweigerer, Sanktionen - und Chancen.
rbb: Herr Mania, gerade ist wieder viel die Rede von Menschen, die sich den Angeboten der Jobcenter immer wieder entziehen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat nun den Vorschlag gemacht, dass das Bürgergeld in solchen Fällen künftig auch ganz gestrichen werden könnte. Aber wie relevant ist diese Gruppe denn wirklich?
Lutz Mania: Momentan wird in den Medien das Thema so dargestellt, als sei es das größte Problem, das wir haben - also ich glaube, das ist nicht wirklich der Fall. Ich will nicht sagen, dass es das Thema der totalen Arbeitsverweigerung nicht gibt. Aber das ist ein so kleines Thema im Vergleich zu all den Bürgergeldbeziehenden, die wir betreuen, die wir unterstützen und die wir letztendlich vermitteln. In diesem Thema steckt sehr viel drin: Und um Arbeit aufnehmen zu können, muss man wollen, und man muss auch können.
Und nicht jeder, der sagt, "Ich will das nicht", will wirklich nicht. Er kann es vielleicht nicht, er traut sich das nicht mehr zu – aus persönlichen Gegebenheiten heraus, etwa dem Gesundheitszustand oder einer Langzeitarbeitslosigkeit. Unser Job ist es, die Menschen dazu zu bewegen, sich diesen Schritt wieder zuzutrauen. Fest steht aber: Ein hoher Anteil der Kundinnen und Kunden, die in einer Grundsicherung sind, und das auch schon ein bisschen länger, hat tatsächlich mit gesundheitlichen Einschränkungen zu tun, körperlichen, aber eben auch mit psychischen. Diese Leute haben zwar Probleme, sind aber grundsätzlich erwerbsfähig, wenn auch eingeschränkt.
Gibt es denn von Seiten des Jobcenters Möglichkeiten, Menschen in Angebote zu vermitteln, um gesundheitliche oder psychische Probleme anderweitig anzugehen – mit dem Ziel, irgendwann doch wieder mehr arbeiten zu können?
Ja, das gibt es, und das ist eigentlich auch die große Veränderung mit dem SGB II [Sozialgesetzbuch, Anm.d.Red.], diese Leistungen der Bundesagentur, die klassischen Unterstützungsleistungen, zu kombinieren mit psychosozialer Beratung, Schuldnerberatung und all dem, was die Kommunen letztendlich anbieten. Wir haben einen Fallmanagement-System, das sich sehr intensiv um Menschen kümmert, die vielschichtige Probleme haben, und das versucht, sie zu unterstützen. Wir reden oft sehr defizitorientiert über das Thema, wir reden nur über Schwächen, Menschen, die nicht arbeiten wollen, die faul sind. Wir reden aber nicht darüber, dass es eigentlich um Chancen geht. Und nur dann, wenn Menschen für sich auch tatsächlich eine Chance sehen, nur dann wird sich etwas bewegen.
Das heißt aber auch, die Gesellschaft muss sich damit abfinden, dass es immer einen kleinen Teil geben wird, den man nicht erreicht und nie erreichen wird?
Selbstverständlich. Und es wäre ja auch sehr verwunderlich, wenn das nicht so wäre. Die Frage ist: Wie groß ist der Teil? Und bin ich nicht trotzdem bereit, diesen Teil zu akzeptieren und zu sagen: Wir arbeiten trotzdem mit ihnen, jeder Mensch ist uns wichtig, und wir versuchen es halt immer wieder? Das ist aber nicht der größte Teil der Bürgergeld-Empfänger, vielleicht ist es ein Prozent, vielleicht sind es auch fünf Prozent. Und selbst dann kann man ein Stück vorankommen. Wir haben Leute, die sind 15 Jahre in der Grundsicherung, die haben alles verweigert, wo man auch schonmal Sanktionen gemacht hat – und auf einmal kommt ein Knick. Dann wird der wach – und jetzt will er doch. Wenn wir uns die einschlägigen TV-Sendungen angucken, wo Menschen sehr offen sagen, dass sie nicht wollen – wetten, dass es bei jedem dieser Menschen Triggerpunkte gibt, die dazu führen, dass sich das wieder ändert? Und ist es nicht unser Auftrag, letztendlich genau diese Triggerpunkte zu finden? Das können tatsächlich auch Sanktionen, Leistungsminderungen sein.
Ich würde gerne auf diesen Begriff "zumutbares Arbeitsangebot" kommen - was ist denn zumutbar? Inwiefern spielt die Ausbildung, die jemand vielleicht gemacht hat, eine Rolle? Oder wie sehr liegt das auch im Ermessen des Sachbearbeiters oder der Sachbearbeiterin, das zu bestimmen?
Grundsätzlich kann man sagen, in einer Grundsicherung ist jede Arbeit zumutbar. Der Anspruch "Ich habe einen erlernten Beruf und will und kann nur in dem arbeiten" gehört in den Bereich der Arbeitslosenversicherung, ALG I. Wenn jemand in die Grundsicherung fällt, ist das vorbei. Es hat zwar auch bei uns absoluten Vorrang, die erfahrene Qualifikation zu nutzen, um tatsächlich auch den Bedarf an Fachkräften im Blick zu behalten. Wenn man aber über Zumutbarkeit redet, dann ist an sich jede Arbeit zumutbar, auch unabhängig vom Qualifikationsstand.
Es liegt dennoch auch im Ermessen des Arbeitsvermittlers, Angebote zu unterbreiten. Aber da ist schon ein bisschen Fingerspitzengefühl gefragt, da geht es auch um die Eignung für den Job. Das hat auch etwas mit gesundheitlichen Einschränkungen zu tun: Ist das zumutbar, aufgrund der Schwere der Arbeit und mit den Gegebenheiten der Kundin oder des Kunden? Sind die Umstände von Arbeitsweg oder Ähnlichem angemessen? Und dann gibt es die harten Einschränkungen, die wir natürlich auch berücksichtigen: Pflegebedürftige, die im Haushalt leben, kleine Kinder, die zu betreuen sind, spielen eine Rolle. Es ist also zu einfach zu sagen, es ist jede Arbeit zumutbar.
Auch jetzt gibt es schon Möglichkeiten, Leistungen einzuschränken, wenn die betreffende Person nicht kooperiert – wie sieht dieses System bislang aus?
Wir unterscheiden grundsätzlich zwei Blöcke: Da sind zum einen Meldeversäumnisse: Wir laden unsere Kunden ein, zu einem konkreten, festen Termin, und die Kunden kommen nicht. Und dann gibt es die Pflichtverletzungen, die Ablehnung oder Verweigerung einer zumutbaren Arbeit oder der Teilnahme an einer Maßnahme, die wir vereinbart haben. Die erste Leistungsminderung bei einem Meldeversäumnis oder einer Pflichtverletzung sind zehn Prozent für einen Monat, bei weiteren Vorfällen dann 20 Prozent für weitere zwei Monate und maximal 30 Prozent für drei Monate oder länger.
Würden denn bei einer Neuregelung, die einen Leistungsentzug einschließen könnte, signifikante Einsparungen zusammenkommen – zum Beispiel in Berlin?
Die spannendere Frage ist: Führt das nicht dazu, dass der eine oder andere vielleicht doch noch mal drüber nachdenkt, sich etwas aktiver zu beteiligen, sich etwas mehr einzubringen. Ups, da droht mir ja vielleicht wirklich der komplette Leistungsentzug. Und dass dieser innere Druck entsteht: Wenn ich hier nicht mitmache, dann weiß ich vielleicht nicht mehr, wovon ich die nächsten Monat leben soll, dann kriege ich nur noch Lebensmittelgutscheine oder muss zur Tafel. Dass das Prinzip des "Förderns und Forderns" vielleicht doch etwas stärker in den Vordergrund rückt, und sie verstehen: Leute, wir meinen das ernst, dass jeder seinen Beitrag leisten muss. Denn wir reden nicht von einem bedingungslosen Grundeinkommen, wenn wir vom Bürgergeld reden, das hat der Minister von Anfang an klargestellt.
Weil Sie es gerade erwähnen: Ist das bedingungslose Grundeinkommen aus Sicht der Jobcenter eine gute Idee?
Nein. Die Frage ist, mit welcher Perspektive wir arbeiten. Ich krieg hier Geld für nix, das geht in unserer Solidargemeinschaft vom Grundverständnis her nicht. Es ist die Idee vom Bürgergeld, und auch die gute Idee, mit Anreizen zu arbeiten, nicht mit Androhung und Sanktionen. Aber wir müssen auch ein Zeichen setzen: Wir erwarten, dass jeder, der staatliche Leistung bezieht, auch sein Bestmögliches gibt, um sich wieder mit einzubringen.
Am Anfang unseres Gesprächs haben Sie gesagt, die Leute, die wirklich nicht mitmachen wollen, die sich immer wieder verweigern, die sind nicht Ihr größtes Problem. Was ist das größte Problem?
Das größte Problem sind die Menschen, die sehr lange im System sind, wo wir uns immer wieder was Neues überlegen müssen. Wir haben das versucht, das hat nicht geklappt. Wie kommen wir an die Menschen ran? Und auch den Mitarbeitern klarzumachen, bei all der Frustration, die sie ja auch erleben: Das ist genau euer Job, darum seid ihr da. Der Mensch steht im Mittelpunkt, wir wollen ihn entwickeln, wir geben alle Chancen und arbeiten zusammen. Und da, wo es nicht klappt, nutzen wir die Instrumente, die es gibt – auch mal eine Leistungseinstellung. Das ist eine Riesenherausforderung, eine der schönsten, aber auch eine der schwierigsten Geschichten.
Danke für das Gespräch.
Das Interview führte Oda Tischewski
Sendung: rbb24 Inforadio, 10.01.2024, 6 Uhr
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