Arbeitgeber fürchten Zulauf
Die Gewerkschaften in Berlin und Brandenburg melden "so viele neue Mitglieder wie seit Jahren nicht mehr". Einige Arbeitgeber befürchten nun noch härtere Arbeitskämpfe. Von Jonas Wintermantel
Bahnstreik, Flughafenstreik, ÖPNV-Streik: Die Arbeitskämpfe sind nicht zu übersehen und zu überhören. Das liegt einerseits an den derzeit in vielen Gewerken auslaufenden Tarifverträgen, andererseits an einer hohen Streikbereitschaft bei den Gewerkschaften.
Und: Immer mehr Menschen in Berlin und Brandenburg engagieren sich selbst und treten einer Gewerkschaft bei. Damit wird ein Abwärtstrend der letzten Jahre bei den meisten Gewerkschaften gebrochen.
Zum Beispiel bei der IG Metall. Laut dem Landesverband Berlin-Brandenburg-Sachsen seien es hier im Jahr 2023 deutlich über 10.000 Neuzugänge gewesen. "So viele wie seit zehn Jahren nicht", sagte ein Sprecher dem rbb. Die Zahl der betrieblichen Mitglieder - also in Betrieben, die bereits tarifgebunden sind - sei demnach bis Ende Dezember 2023 um über 2.000 auf knapp 104.000 gestiegen.
Außerdem konnte die Gesamtzahl der betrieblichen und nicht-betrieblichen Mitglieder zum ersten Mal seit vielen Jahren stabil gehalten werden – trotz der demographischen Entwicklung, Todesfällen und rentenbedingten Austritten. Die IG Metall vertritt unter anderem die Beschäftigten in der Metall-, Elektro und Stahlindustrie.
Auch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi verzeichnet bundesweit mehr Mitglieder. In Berlin und Brandenburg betrug das Wachstum 2023 1,63 Prozent. In den Corona-Jahren 2020 bis 2022 hatte die Gewerkschaft noch 4 Prozent an Mitgliedern verloren. Deutschlandweit registrierte Verdi mit rund 193.000 Neuzugängen den nach eigenen Angaben größten Mitgliederzuwachs seit ihrer Gründung im Jahr 2001.
Und auch bei kleineren Gewerkschaften wie der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) verzeichnet man steigende Mitgliederzahlen – auf Bundes- genau wie auf Landesebene. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist in Berlin im vergangenen Jahr um fünf Prozent gewachsen.
Der Hauptgrund für die steigende Attraktivität der Gewerkschaften dürfte in der zunehmend schwierigen wirtschaftlichen Lage der Menschen liegen. Steigende Preise und hohe Inflationsraten sorgen dafür, dass von der eigenen Arbeit immer weniger Geld übrig bleibt.
"Wenn sich überhaupt jemand dieser Entwicklung entgegenstellen kann, dann sind es starke Gewerkschaften", sagt Thorsten Schulten, Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Tarifpolitik bei der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung.
Doch auch ein neues Selbstbewusstsein sei Schulten zufolge auf Seiten der Arbeitnehmer zu beobachten. Diese wüssten um den Wert ihrer eigenen Arbeit in Zeiten von Personal- und Fachkräftemangel. Deshalb würden sie auch offensiv entsprechende Wertschätzung einfordern.
Sicherheit geben in unsicheren Zeiten – das sei der "Markenkern" von Gewerkschaft, sagt Dirk Schulze, IG-Metall-Bezirksleiter: "Wir als Gewerkschaft, unsere Tarifverträge, aktive Betriebsräte, gelebte Mitbestimmung und Beteiligung der Belegschaften sind unsere Antworten auf Unsicherheit und Verdruss", so Schulze.
Gleichzeitig seien die Arbeitgeber gefragt. Diese müssten deutlich machen, in welche Richtung sich ihre Unternehmen entwickeln werden: "Die Beschäftigten haben ein Recht darauf, dass Veränderungen nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden werde, sondern dass Transformation sozial, ökologisch und demokratisch gestaltet wird."
Auch und gerade diese aktive Mitbestimmung und demokratische Beteiligung scheinen das Engagement in der Gewerkschaft für immer mehr Beschäftigte attraktiv zu machen, meint Thorsten Schulten von der Hans-Böckler-Stiftung. "Auch die Gewerkschaften haben sich verändert und sich zunehmend von der alten Stellvertreterpolitik verabschiedet zugunsten einer breiten und aktiven Beteiligung der Mitglieder."
Das bestätigt auch Jonas Bohl von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. "Auch, weil es heute viel bessere Möglichkeiten gibt, zum Beispiel online-basierte Umfragen unter den Mitgliedern. Dadurch fühlen die sich mehr mitgenommen bei den Entscheidungsprozessen."
Nicht selten kämen dabei auch Themen und Wünsche auf die Tagesordnung, die bisher kaum Beachtung gefunden hätten. Die Ansprache gegenüber den Mitgliedern verändere sich – man arbeite mitgliederorientiert und immer mit dem Service-Gedanken im Hinterkopf.
Bohl beobachtet in den letzten Jahren eine deutlich steigende Streikbereitschaft unter den Beschäftigten: "So ein streikreiches Jahr wie 2023 haben wir noch nie erlebt. Das hilft natürlich bei der Mobilisierung neuer Mitglieder. Wenn man sich außerhalb der Reichweite des Chefs trifft und spricht, können andere wiederrum überzeugt werden, mitzumachen", so Bohl.
Der aktuelle Zulauf an Mitgliedern und die Omnipräsenz offensiver Arbeitskämpfe stärkt den Gewerkschaften offensichtlich den Rücken. Die hohe Streikbereitschaft schmeckt aber natürlich nicht jedem. "Im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge beobachten wir seit einiger Zeit eine deutliche Zunahme von Warnstreikaktionen, die aus unserer Sicht teilweise nicht mehr angemessen sind", sagt eine Sprecherin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) dem rbb.
"Man kann den Eindruck haben, dass Streikmaßnahmen der Gewerkschaften, so auch in der Lohnrunde 2023 im kommunalen öffentlichen Dienst, vornehmlich dazu genutzt werden, neue Mitglieder zu gewinnen. Ein zum Teil schon inflationärer Gebrauch des Streikrechts geht jedes Mal zu Lasten Dritter, also der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes."
Die VKA verweist in diesem Zusammenhang auf den 17 Milliarden Euro schweren und nach eigener Aussage "teuersten Tarifabschluss aller Zeiten für die kommunalen Arbeitgeber" im April 2023 – ein Abschluss zwischen Verdi, Beamtenbund und Tarifunion.
Einigungen wie diese würden die kommunalen Haushalte und Einrichtungen stark belasten. Für die Kommunen ergebe sich dadurch ein Spannungsfeld: "Dass man das Geld nur einmal ausgeben kann, ist allgemein bekannt", so die Sprecherin.
Einerseits müsse die Daseinsvorsorge gewährleistet werden, auf der anderen Seite müssten die Kommunen in Zeiten des Arbeitskräftemangels Beschäftigte an sich binden. "Auf der anderen Seite erhöht sich jedoch auch die Attraktivität der Arbeitsplätze im kommunalen öffentlichen Dienst", gibt die VKA-Sprecherin zu.
Etwas gelassener reagieren die Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB) auf die steigenden Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften. "Ein starker Sozialpartner ist in unserem Interesse. Insofern begrüßen wir es, wenn die Gewerkschaften Unterstützung finden", sagt deren stellvertretender Hauptgeschäftsführer Andreas Schulz.
Die Frage des rbb, ob der Verband und seine Mitglieder aufgrund der gestärkten Gewerkschaften auch mit einer höheren Streikbereitschaft rechneten, verneinte Schulz: "Mehr Gewerkschaftsmitglieder bedeuten nicht zwangsläufig auch mehr Konflikte und Arbeitskämpfe. Streiks sollten immer nur das allerletzte Mittel im Arbeitskampf sein." Von einer Lösung am Verhandlungstisch würden beide Seiten profitieren, so Schulz.
Sendung: rbb24 Inforadio, 01.02.2024, 12:30
Beitrag von Jonas Wintermantel
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