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Audio: rbb24 Inforadio | 24.04.2024 | Thorsten Gabriel | Quelle: dpa-Zentralbild

Streit um S-Bahn-Vergabeverfahren

Das Milliarden-Kammerspiel

Fast zehn Stunden lang streiten der Konzern Alstom und die Landesvertreter von Berlin und Brandenburg vor Gericht um die gemeinsame S-Bahn-Ausschreibung. Doch plötzlich wird aus der Verhandlung eine Mischung aus Workshop und Therapiesitzung. Von Thorsten Gabriel

Cornelia Holldorf ist zwar Richterin, doch an ihr ist eine Theaterregisseurin verloren gegangen. Nicht nur, weil sie beim Blick auf den Verhandlungstag zwischendurch von erstem, zweiten und dritten Akt spricht. Es fängt schon gleich morgens an: "Ach", sagt Holldorf, nachdem sie die Sitzung am Freitag im Saal 449 des Kammergerichts eröffnet hat - so, als habe sie das Wichtigste vergessen. Sie dreht sich um und schließt bedächtig vier metallene Aktenschränke an der Wand auf. Zum Vorschein kommen locker 200 Büroordner. Es sind die Akten dieses enormen Verfahrens.

Dass es eine Mammutsitzung werden dürfte, ahnen die meisten im Raum zu diesem Zeitpunkt zwar schon. Aber welchen Verlauf der Tag nehmen würde, können allenfalls diejenigen vermuten, die schon andere Verhandlungen der Richterin erlebt haben. Es sei ein "umfangreiches und auch komplexes Verfahren", sagt sie und keiner der Menschen im Saal würde da widersprechen.

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Die Ausschreibung für bis zu 2.200 neue Wagen ist die bislang größte der Berliner S-Bahn. Der Konzern Alstom hat Rügen gegen das Vergabeverfahren eingereicht - teilweise zurecht, sagt das Kammergericht. Es fordert von den Streitparteien, aufeinander zuzugehen.

Ein Kammerspiel mit drei Protagonisten

Rechts blickt sie auf die Riege der Anwältinnen und Anwälte des weltweit zweitgrößten Bahntechnikkonzerns Alstom. Die Beschwerde des französischen Unternehmens ist der Grund, weshalb alle an diesem Tag hier versammelt sind. Wortführer für die Konzernseite ist der Münchner Jurist Alexander Csaki von der Kanzlei "Bird & Bird". Links sitzen die Antragsgegner, die Rechtsbeistände der Länder Berlin und Brandenburg. Hier ist es vor allem Niels Griem von der Bremer Kanzlei "BBG und Partner", der spricht.

Holldorf, Griem und Csaki sind die Protagonisten in diesem kleinen Kammerspiel über das große S-Bahn-Vergabeverfahren, um das es geht: Per europaweiter Ausschreibung suchen Berlin und Brandenburg Unternehmen, die bis zu 2.248 neue S-Bahn-Züge beschaffen, instandhalten und sie künftig auf der Stadtbahn und den Nord-Süd-Linien betreiben. Aber suchen sie wirklich Unternehmen, im Plural gesprochen? Oder vielleicht doch am liebsten nur ein einziges, das alles erledigt?

Alstom sieht sich gegenüber der Deutschen Bahn benachteiligt

Das ist letztlich die Frage, die während des gesamten Verhandlungstages unausgesprochen im Raum steht. Alstom fühlt sich im Vergabeverfahren benachteiligt gegenüber dem einen großen Unternehmen, das seit einem Vierteljahrhundert die Berliner S-Bahn im Alleingang managt: der Deutschen Bahn (DB). Mit ihr hat Berlin in den vergangenen 25 Jahren Höhen und Tiefen erlebt. Trotzdem gibt es auf der landespolitischen Bühne keine Fraktion, die derzeit sonderlich erpicht darauf wäre, dass jemand anderes als die DB die S-Bahn betreibt - oder dass das Netz gar unter mehreren Konzernen aufgeteilt wird.

Zumindest die Regierungsseite formuliert das allerdings nicht laut, denn das könnte die Ausschreibung in Gefahr bringen. Die ist in vier Teil-Lose aufgeteilt und es gibt für interessierte Unternehmen neun verschiedene Möglichkeiten, sich zu bewerben: entweder nur für die Beschaffung und Instandhaltung von Teilen des künftigen Fuhrparks, für Teile des Betriebs oder auch für alles zusammen.

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Eine "Rügeliste" mit 25 Punkten

Das Gericht hat die Kritikpunkte Alstoms an dem Verfahren zu einer "Rügeliste" mit 25 Punkten zusammengefasst. Ganz oben steht der Bewertungsmaßstab, an dem die Länder die eingehenden Angebote messen wollen. Ein Unternehmen das ein Gesamtangebot abgebe, könnte bevorzugt werden - auch wenn es wirtschaftlichere Angebote anderer Firmen für Teile der Ausschreibung gebe, lautet die Kritik. Will heißen: Das System sieht zwar nach Wettbewerb aus, ist aber im Grunde darauf ausgerichtet, dass Einzelangebote benachteiligt werden.

Das sieht auch das Gericht so. "Wir sind als Senat der Auffassung, dass die Art und Weise, wie Sie die Bewertung vornehmen möchten, nicht sicherstellt, dass der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot erfolgen würde", sagt die Richterin Holldorf in Richtung der Länder. Es könne dazu kommen, "dass das wirtschaftlich günstige Angebot hinten runterfällt und das wäre dann ein Verstoß gegen das Vergaberecht."

Könnte das Gericht das gesamte Verfahren kippen?

Auch bei weiteren Punkten, bei denen es darum geht, dass ein "Bestandsunternehmen" bevorteilt werden könnte, signalisiert das Gericht, dass es die Rügen Alstoms für begründet hält. Das betrifft zum Beispiel den Umgang mit vorhandenen Werkstätten, die die Deutsche Bahn logischerweise seit Jahrzehnten betreibt. Der Länder-Anwalt Griem argumentiert, die vorhandenen Werkstätten seien ein Vorteil, den sich das Unternehmen im Rahmen seines marktwirtschaftlichen Wirkens erarbeitet habe. Holldorf hält dagegen, es handle sich um einen "Sondervorteil", den das Unternehmen sich durch die 25-jährige enge Bindung an die Länder als Auftraggeber erworben habe. Der Name “Deutsche Bahn” fällt nie, wenn es um sie geht. Das ganze Vergabeverfahren ist schließlich streng vertraulich. Und so heißt es stattdessen immer wieder: "Wenn sich ein Unternehmen bewerben würde, das..."

Bis zur Mittagspause wird über solche Fragen ausführlich diskutiert. Holldorf betont dabei, sie erkenne ausdrücklich an, dass die Länder um ein vergaberechtlich konformes Verfahren bemüht gewesen seien. Trotzdem gewinnt man nach den ersten drei Stunden den Eindruck, dass es nicht allzu gut um das größte Ausschreibungsverfahren in der Geschichte des Berliner Nahverkehrs steht. Könnte es am Ende dieses Tages also vom Gericht gekippt werden? Mit diesem "Cliffhanger-Gefühl am Ende des ersten Aktes werden Verfahrensbeteiligte und Publikum von der Richterin in die Pause geschickt.

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Ein Wendepunkt zu Beginn des zweiten Aktes

Wer sich gut anderthalb Stunden später, zur besten Suppenkoma-Zeit, wieder im Saal einfindet, wird schnell wachgerüttelt. Die besprochenen Rügen, so eröffnet Cornelia Holldorf die Sitzung, sehe das Gericht zwar als begründet an, gleichzeitig aber auch als unzulässig. Warum das so ist, bleibt zunächst unklar. Gemutmaßt wird in Pausen danach über verstrichene Fristen. Sollte es zu einer Entscheidung kommen, so Holldorf, werde das Gericht allenfalls auf der Grundlage von zwei der Rügen ins Vergabeverfahren eingreifen.

Und die lange Liste der übrigen Rügen? Die sind aus Sicht des Vergabesenats "nicht von ganz so entscheidender Bedeutung, weil sie aus unserer Sicht zum Teil erledigt, zum Teil unbegründet" seien. Abgehakt. Die nächsten anderthalb Stunden werden noch einmal Argumente zu Werkstätten, Gleisanschlüssen oder "Zugbeeinflussungssystemen" abgewogen. Dann ist für Richterin Holldorf auch der zweite Akt abgeschlossen. Und nun?

"Wir bieten gerne an, mit Ihnen die Kuh vom Eis zu bekommen"

"Wir könnten jetzt noch weiter den Nachmittag mit der Frage der Zulässigkeit weiterer Rügen verbringen", sagt sie. "Wir sind zeitlich offen, wir können gerne auch das gesamte Wochenende…", bringt sie den Satz nicht zu Ende, weil er natürlich mehr rhetorisch als ernst gemeint ist. "Wir könnten aber auch den Schwerpunkt des Nachmittags darauf setzen, den Blick nach vorn zu richten. Wir bieten uns hier gerne an, mit Ihnen daran zu arbeiten - ich sage mal - die Kuh vom Eis zu bekommen."

An dieser Stelle wird aus der Gerichtsverhandlung eine Mischung aus Workshop und Therapiesitzung. Cornelia Holldorf ist nicht nur Richterin, sondern auch mit Leidenschaft Mediatorin. Sie bleibt stets ruhig, aber bestimmt. Man spürt: Am liebsten würde sie die Verfahrensbeteiligten so lange einschließen, bis sie sich die Hand reichen und versöhnt auseinandergehen. Dass es dazu hier im Saal 449 bis zum Abend nicht kommen wird, dürfte ihr zu diesem Zeitpunkt allerdings auch klar sein. Unversucht lässt sie es trotzdem nicht.

Ist eine gemeinsame Lösung möglich?

Beiden Seiten gibt sie die Aufgabe, in den nächsten Minuten erst einmal in sich zu gehen und dann miteinander zu klären, ob es eine Basis für eine gemeinsame Lösungssuche gibt. Sie selbst entschwindet ins Hinterzimmer und bittet darum, durch Klopfen herausgerufen zu werden, wenn diese Frage geklärt sei.

Und tatsächlich, 20 Minuten später verkündet der Länder-Anwalt Griem der Richterin: "Wir bedanken uns ganz herzlich für das Ansinnen des Gerichts und wollen diesem Ansinnen auch gerne nachkommen und uns Ihre Lösungsvorschläge gerne anhören." Man wäre bereit, ergebnisoffen zu reden. Auch der Kontrahent Csaki willigt ein, verweist aber darauf, dass eine abschließende Zustimmung aufgrund von notwendigen Rücksprachen vermutlich eine Woche dauern könnte.

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In weiteren anderthalb Stunden wird an Formulierungen gefeilt, mit denen sich die Länder verpflichten sollen, an den Ausschreibungsmodalitäten nachzubessern - und zwar auch bei jenen Rügen, die zwar vom Gericht als begründet angesehen, aber trotzdem für unzulässig erklärt wurden. Vielleicht liegt es an der fortgeschrittenen Uhrzeit, an eintretender Müdigkeit, vielleicht aber auch daran, dass sie guten Willen zeigen will - jedenfalls lässt sich die Länderseite darauf ein, auch über Änderungen dort zu reden, wo eigentlich nicht geredet werden müsste.

Im Falle der Kriterien, nach denen eingehende Angebote bewertet werden sollen, entsteht so allerdings eine Neuformulierung, bei der Länder-Anwalt Griem die Sorge beschleicht, dass sie neue Ungerechtigkeit nach sich ziehen und neuen Klagen Tür und Tor öffnen, kurzum: das ganze Verfahren ins Wanken bringen könnten. Das sieht das Gericht zwar nicht so düster, aber Griems Bedenken bleiben. Für Alstom gibt der Anwalt Csaki irgendwann ermattet zu Protokoll, er sehe sich nicht mehr in der Lage, das Vereinbarte "intellektuell nachzuvollziehen". Aber er glaube, das höre sich gut an.

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Die Richterin gibt Hausaufgaben

Kurz vor Schluss, es geht mittlerweile auf halb acht zu, moniert Csaki dass sich Alstom - Kompromissformulierungen hin oder her - in seinen 20 weiteren Kritikpunkten nicht gehört fühle und auch gern wissen würde, warum viele der Rügen unzulässig seien. Antworten bekommt er nicht. Stattdessen verordnet die Richterin Holldorf beiden Seiten noch einmal Bedenkzeit. Oder genauer: sich selbst. Denn jetzt muss das Gericht klären, wie es weiter vorgehen will.

Weitere 20 Minuten später kehrt Holldorf mit ihren beiden Kollegen aus dem Hinterzimmer zurück und gibt Hausaufgaben: "Sie müssen jetzt bitte bei sich zuhause prüfen, ob Sie auf dieser Grundlage" - sie meint die gemeinsam formulierten Verpflichtungen für die Länder - "Abhilfe schaffen wollen und damit das Verfahren komplett beendet werden kann. Das verhandeln sie miteinander." Und in der Pose eine Grundschullehrerin, die schüchternen Kindern Mut zusprechen will, ergänzt sie: "Das können Sie!"

Ein Fortsetzungstermin für den Fall der Fälle

Dabei ist das Können eigentlich nicht die Frage. Es ist eine Frage des Wollens. Für Alstom erscheint es in diesem Augenblick wenig attraktiv, mit ein paar Kompromisssätzen einen Schlussstrich zu ziehen. Ein bisschen wäre es das Bild von demjenigen, der als Tiger springt und als Bettvorleger landet. Und für die Länder birgt die Zustimmung zu den Verpflichtungen die Gefahr, dass das gesamte Vergabeverfahren scheitern könnte.

Das ahnend verkündet Cornelia Holldorf am Ende: "Für den Fall, dass diese Einigung nicht gelingt, werden wir jetzt schon einen Fortsetzungstermin anberaumen." Der ist kurzfristig und die Wahrscheinlichkeit des Wiedersehens durchaus hoch: in einer Woche, am 1. März. Gleicher Saal, gleiche Uhrzeit, gleiches Gericht. Nach fast zehn Stunden bedankt sich die Richterin bei allen für den "tollen Tag".

Sendung: rbb24 Inforadio, 24.04.2024, 7 Uhr

Beitrag von Thorsten Gabriel

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