Öffentlicher Nahverkehr
Im Großraum Paris sollen 68 neue U-Bahn-Stationen entstehen – in nur 15 Jahren. Davon kann Berlin aktuell nur träumen. Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen sich vor Ort vom Pariser "Spirit" anstecken lassen – und stoßen an ihre Grenzen. Von Agnes Sundermeyer
In der Pariser Vorstadt "Le blanc Mesnil" ragen Metallstreben in die Höhe für ein höchst futuristisch anmutendes Dach. Luftig umspannt es das Eingangsgebäude einer neuen U-Bahnstation. Ein zukünftiger Stopp des "Grand Paris Express", eines der größten Infrastrukturprojekte Europas.
Durch diesen Eingang steigt die Delegation der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gemeinsam mit ihrer Aufsichtsratsvorsitzenden, der Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD), rund 21 Meter in die Tiefe. Rolltreppen sind schon fertig, aber noch unter Holzbrettern versteckt. Alles scheint nur auf die neuen U-Bahn-Züge zu warten. Sie werden vollautomatisch unterwegs sein, also fahrerlos.
Unten blickt der Vorstandvorsitzende der BVG, Henrik Falk, in einen fast fertiggestellten Tunnel. Mit 60 Stundenkilometern werden die Züge des Grand Paris Express dort "hindurchrasen". Klingt gar nicht so schnell, aber in Berlin sind die Bahnen im Untergrund nur mit durchschnittlich 30 Stundenkilometern unterwegs.
Bisher waren sie auch in Paris langsamer, aber mit dem "Grand Paris" soll alles schneller gehen. Nicht nur die Geschwindigkeit soll sich auf den vier neuen und zwei ausgebauten Linien mehr als verdoppeln, sondern auch das Schienennetz. 200 Kilometer Schiene kommen mit dem Grand Paris Express hinzu.
Begeistert und staunend schauen Giffey und die BVG-Vertreter in die Tunnel rechts und links der neuen Station. Auf die Frage, ob man nicht auch beim U-Bahn-Ausbau in Berlin einen Zahn zulegen könne, reagiert BVG-Chef Henrik Falk zurückhaltend. Klar, das sei "die Vision". Aber vor allem in Finanzierungsfragen unterschieden sich Frankreich und Deutschland gewaltig.
"Wo wir noch Herausforderungen in Berlin haben, ist, Modelle zu finden, wie man ein solches Projekt finanziert", sagt Falk – und erinnert: "Frankreich ist ein Nationalstaat, da ist die Nationalregierung stark beteiligt". Berlin müsse mit dem Bund gemeinsam eine Vision entwickeln, um solche Projekte zu stemmen. Dabei übernimmt der Bund bei U-Bahn-Projekten bereits über die Hälfte der Kosten.
Der Grand Paris Express wird 36 Milliarden Euro kosten. Finanziert über eine Sondersteuer auf Büroflächen, Grundstücke, Hotelbetten und Kredite. Die Steuer soll jährlich Einnahmen von 800 Millionen Euro bringen.
Jean-Francois Stoll, Chef der "Société de Grand Paris", die Auftraggeber des Mega-Projektes ist, erläutert, besonders wichtig beim Grand Paris Express sei neben dem ausgeklügelten Finanzierungskonzept auch gewesen, dass dieses Projekt von drei Präsidenten ganz unterschiedlicher Parteien vorangetrieben worden sei: Sarkozy, Hollande, Macron. Ohne diesen politischen Rückhalt ginge nichts.
Das wiederum dürfte den Berlinern bekannt vorkommen. Jahrelang lang war in Berlin Stillstand in Sachen U-Bahn. Der Weiterbau einer Linie – der U3 zwischen Krumme Lanke und Mexikoplatz – soll kommendes Jahr beginnen. Mit 800 Metern mutet das aber im Vergleich zum Pariser Projekt eher wie eine Spielzeugbahn an.
Auf das langsame Tempo angesprochen, macht die Berliner Wirtschaftssenatorin eine abwehrende Handbewegung. Klar sei: "Ein Hadern und Zaudern, ob man vielleicht eine U-Bahn ausbauen sollte, ist nicht der richtige Weg!" Jetzt müsse man sich wieder mehr an einen Tisch setzen, um eine Vision zu entwickeln. Doch was das genau heißen soll, lässt Giffey offen.
2030 soll der Grand Paris fertig sein. Damit das klappt sind 28 Tunnelbohrer "made in Germany" im Einsatz. Die Firma Herrenknecht aus Baden-Württemberg hat sie geliefert.
Das neu entstandene Streckennetz verlängert die bestehende Linie 14 nach Norden und Süden, damit soll sich die Fahrzeit zum Flughafen Orly vom Zentrum aus deutlich verkürzen. Die neuen Linien sollen aber auch für eine bessere Anbindung der Vororte sorgen. Davon verspricht sich das Land auch eine Verbesserung der strukturschwachen Banlieues. "Wir wollen, dass der Weg zur Arbeit kürzer wird und es damit auch attraktiver wird, eine Arbeit aufzunehmen", formuliert es der Chef der Société de Grand Paris.
Eine wichtiger Aspekt auch für BVG-Chef Falk: "Dass Mobilität hier auch als ein sozialer Faktor gedacht wird, das müssen wir noch mehr in den Blick nehmen."
Auch in Berlin ist die Frage der besseren Verkehrswege in die Außenbezirke und in den Speckgürtel noch lange nicht beantwortet. Dafür komme aber, so Falk, nicht nur der U-Bahnausbau in Frage, der lange dauere. Er selbst mache "keinen Hehl" daraus, dass er neben dem U-Bahn-Ausbau auch auf das autonome Fahren bei Kleinbussen setze, so der BVG-Chef.
Als die Gruppe der BVGler und Giffey wieder aus der U-Bahn-Station auf den Vorplatz der Baustelle tritt, ist das Fazit klar: Es müsse schneller gehen beim U-Bahn-Ausbau. Man habe jetzt "eine Vision". Die aber glitzert vorerst nur – so wie die Sonne an diesem Mittag durch die futuristische Dachkonstruktion.
Sendung: rbb24 Abendschau, 23.05.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Agnes Sundermeyer
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