Apothekenschließungen in Berlin
Es gibt immer weniger Apotheken in Berlin. Das zeigen aktuelle Zahlen des Senats. Apotheker Max Wilke bemerkt das kurz hinter der Berliner Stadtgrenze jeden Tag - und sagt, wo die Probleme liegen. Von Felix Leitmeyer
Im weißen Kittel steht Max Wilke hinter dem Tresen seiner Apotheke im Kaufpark Eiche, einem Shoppingcenter in Ahrensfelde (Barnim), direkt an der Berliner Stadtgrenze. Eine Frau steht an diesem Morgen an der Spitze der langen Schlange im kalt beleuchteten Verkaufsraum. Sie trägt schwarze Haare, eine schwarze Jacke und ist viel zu warm angezogen für das Wetter. Sie hustet dreimal laut, es klingt bellend. Seit Wochen gehe das schon so, sagt sie.
Wilke hört ihr aufmerksam zu. Er lächelt ganz kurz und routiniert, schiebt ihr eine kleine Packung zu und sagt: "Aber abends nicht mehr nehmen, den Hustenstiller." Noch hält er die Packung fest und blickt ihr eindringlich in die Augen. "Und ich mache mir Sorgen, dass daraus eine Lungenentzündung wird. Wenn es bis Montag nicht besser ist, gehen Sie zum Arzt."
Ein Tipp, eine kleine Warnung, eine Aufmunterung: Max Wilke gibt jedem Kunden ein paar Worte mit. Er sieht sich als Gesundheitsdetektiv, der seinen Versorgungsauftrag ernst nimmt. "Wer sich schon nicht dazu durchringen kann, zum Arzt zu gehen, kommt immerhin in die Apotheke um die Ecke", sagt er. Doch die werden weniger. Das spürt auch Wilke.
Obwohl die Apotheke auf der anderen Straßenseite und damit in Brandenburg liegt, gehen die Berlinerinnen und Berliner dort einkaufen. Nicht zuletzt deshalb, weil es in Marzahn-Hellersdorf immer weniger Apotheken gibt. Das belegen Zahlen der Senatsverwaltung für Gesundheit. Demnach gibt es im Bezirk noch 46 Apotheken für 270.000 Einwohner.
In ganz Berlin hat seit 2013 fast jede fünfte Apotheke dichtgemacht. Und das, obwohl gleichzeitig neun Prozent mehr Menschen in der Stadt leben. Bislang betrifft es nicht alle Berlinerinnen und Berliner gleichermaßen: In Charlottenburg-Wilmersdorf, Mitte und Tempelhof-Schöneberg gibt es besonders viele Apotheken, gerade in dicht besiedelten Ecken. Doch auch in diesen Bezirken wird die Versorgung schlechter, zeigen die Zahlen der Gesundheitsverwaltung. Laut der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) liegt die Apothekendichte in Deutschland bereits heute unter dem europäischen Durchschnitt. 21 Apotheken kommen demnach auf 100.000 Einwohner - europaweit sind es im Schnitt 32 [abda.de].
Wer wissen will, warum so viele Apotheken schließen, dem hilft es, etwas Zeit bei Wilke zu verbringen. Ein großes Problem liegt aus seiner Sicht schon darin, wofür eine Apotheke da ist: Um Medikamente zu verkaufen, deren Kosten die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen. Dabei verdiene er fast nichts, sagt Wilke.
In den vergangenen zwanzig Jahren sind die Apothekenhonorare nur geringfügig, die Kosten jedoch deutlich gestiegen. Das sagen übereinstimmend Apotheker Wilke aus Ahrensfelde, der Vorsitzende des Deutsche Apothekerverbandes, Hans-Peter Hubmann, und Experten wie beispielsweise der Insolvenzrechtler Moritz Wollring, der sich mit der Branche beschäftigt. Finanziert werden Apotheken heute im Prinzip so: Pro verkauftes rezeptpflichtiges Arzneimittel gibt es einen Festbetrag von 8,35 Euro, einen Zuschlag von drei Prozent und eine Pauschale von 21 Cent für Not- und Nachtdienste. Davon ziehen die Krankenkassen noch einen Abschlag von 2 Euro ab. Heißt am Ende: Drei Prozent eines teureren Medikamentes bringen der Apotheke mehr, als drei Prozent eines billigeren.
Aber selbst die teuren Medikamente rechnen sich oft nicht. Warum das so ist, zeigt sich, als ein älterer Mann den Laden betritt. Er ist Stammkunde und besteht auf Chefbehandlung. Wilke muss selbst ran. Der Kunde leidet an Schuppenflechte. Das Medikament, eine Spritze, kostet rund 4.500 Euro. Theoretisch verdient die Apotheke damit 122 Euro, zeigt Wilkes Kassensoftware. Doch der Großhandel will sein Geld sofort, wenn Wilke das Medikament einkauft. Die Krankenkasse aber brauche oft zwei Monate, um zu zahlen, sagt der Apotheker.
Werden viele teure Medikamente von Patientinnen und Patienten gekauft, müsse die Apotheke schnell Zehntausende Euro vorstrecken. "Dafür gehen wir auch mal bei der Bank ins Minus", sagt Wilke. Die Zinsen fräßen den Gewinn dann nicht selten komplett auf. Eine Folge: Kleine Apotheken könnten sich teure Medikamente bald vielleicht nicht mehr leisten. Das könnte besonders im dünner besiedelten, ländlichen Raum zum Problem werden, wo die Wege für Kunden länger sind und der Anteil älterer Menschen höher ist.
Wenn Wilke über die Probleme in seiner Branche spricht, dreht sich der Apotheker von seinem Verkaufstresen weg. Zum ersten Mal fallen die Routine und das freundliche Lächeln ab. "Ich hoffe einfach, dass es den Job und diese Branche noch lange in dieser Form geben wird. Da sehe ich schon eine Bedrohung", sagt er und bezieht sich dabei auf die Apothekenreform, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) plant.
Der will unter anderem Apotheken ohne Apothekerinnen und Apotheker: Also solche, in denen die meiste Zeit nur Assistenzkräfte arbeiten. Und die Apotheken sollen an den verschreibungspflichtigen Medikamenten noch weniger verdienen dürfen. Immer mehr Ältere in der Gesellschaft, die auf Medikamente angewiesen sind, weniger Jüngere, die einzahlen: Das lässt die Kosten für die Gesundheitsversorgung weiter steigen. Lauterbachs Pläne sollen ein Baustein dafür sein, Kosten zu sparen und Geld umzuverteilen. Die Idee: Landapotheken und kleinere Apotheken könnten tendenziell profitieren, da sie weniger hochpreisige Medikamente verkaufen. Apotheken, die viele teurere Arzneimittel verkaufen, insbesondere spezialisierte Apotheken, werden voraussichtlich weniger verdienen [tagesschau.de]. Der Apotheker Max Wilke erklärt, warum er das System wie mehrere seiner Kolleginnen und Kollegen für fehlerhaft hält.
"Das hier bringt den meisten Gewinn", sagt Wilke und deutet auf ein Regal voller bunter Packungen. "Medikamente, die frei verkäuflich sind." Er greift nach einer Schachtel Ibuprofen, dann nach Aspirin. Das sind die Klassiker und von der Sorte, mit der die Krankenkasse nichts zu tun hat. In Wilkes Apotheke funktioniert das Geschäft gut, auch dank dieser Produkte. Sie macht im Jahr einen Umsatz im höheren einstelligen Millionenbereich. Das ist mehr als der Durchschnitt, der laut ABDA bei 3,22 Millionen Euro im Jahr liegt.
Doch rund 60 Prozent der Apotheken setzen deutlich weniger um. Entsprechend weniger bleibt für diejenigen, die in der Apotheke tagein tagaus arbeiten. "Manche Kollegen haben es versäumt, sich anzupassen oder konnten es sich nicht leisten", sagt Wilke. Das heißt, sie sind in der Zeit steckengeblieben, in der verschreibungspflichtige Medikamente noch lukrativer waren. Sie haben an alten Geschäftsmodellen festgehalten und die Digitalisierung verschlafen. "Das rächt sich leider schnell", sagt Wilke. Laut Wirtschaftsbericht der ABDA sank der Gewinn selbständiger Apothekerinnen und Apotheker vor Steuern und Altersvorsorge allein 2023 um durchschnittlich 7,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Dass die Apotheke in der Max Wilke arbeitet vergleichsweise gut läuft, zeigt: Wenn sich die Zeiten ändern, bringt das trotz allem auch Chancen. Ein digitales Lagersystem macht hier die Arbeit schneller, die Auswahl an Medikamenten größer. In einem Extraraum können sich Kundinnen und Kunden impfen lassen, bekommen ihren Blutdruck gemessen oder werden bei Erkrankungen wie Asthma geschult. Sie können Medikamente online bestellen und in der Apotheke abholen - dann auch mit Wilkes Beratung. "Konkurrenz und Kostendruck belebt am Ende auch den Markt", sagt Wilke. Und das kann dann auch den Kunden nützen.
Natürlich fehlt vielen Apotheken das Geld für solche Angebote. Und ob das langfristig reicht, um ihre Zukunft zu retten, ist unklar. Auch wenn Menschen fehlen, die neue Apotheken gründen, Ideen gegen das Apothekensterben gibt es durchaus. Zum Beispiel in Thüringen: Hier bekommen neue Apothekengründerinnen und -gründer in ländlichen Regionen ein Startgeld von bis zu 40.000 Euro. Das ist fast genug für zehn Spritzen gegen Schuppenflechte.
Beitrag von Felix Leitmeyer
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