Museen und ihr koloniales Erbe
Seit mehr als 50 Jahren sucht Isaria Meli den Schädel seines Großvaters. Dieser leistete Widerstand gegen das deutsche Kolonialsystem, wurde erhängt und anschließend enthauptet. Die Spur der Knochen verliert sich in Berlin. Aus Tansania berichtet Oliver Noffke
Von der Holzbank auf dem Dorfplatz aus kann Isaria Meli die Ausläufer des Kilimandscharo sehen. Er sieht, wie morgens der Dampf aus den Wäldern aufsteigt und die weiten Felder im Tal. Er sieht seine Urenkel, die auf dem Pfad zwischen den Bananenplantagen toben. Er sieht, wer auf der holprigen Straße aus der Stadt gelaufen kommt. Er hat den Baum im Blick, an dem sein Großvater von Deutschen erhängt wurde.
Isaria Meli lebt in Old Moshi, einem Dorf im Norden Tansanias, das viel über unsere koloniale Vergangenheit erzählt – insbesondere über die brutale Gewalt, mit der das Deutsche Kaiserreich einst versuchte, ein weltumspannendes Imperium aufzubauen. Zwar zerbrach dieses lange bevor der 87-Jährige geboren wurde, dennoch hat diese Epoche einen Großteil seines Lebens bestimmt. "Seit mehr als 50 Jahren suche ich jetzt den Schädel meines Großvaters", sagt Isaria Meli. Als ein Anführer des Volks der Chagga leistete dieser den deutschen Eroberern lange Widerstand. Schließlich wurde er von ihnen zum Tode verurteilt, erhängt und anschließend enthauptet. "Die Deutschen haben den Schädel meines Großvaters gestohlen. Ich will wissen: Wo ist Mangi Meli geblieben?"
Lange wurde Mangi Melis Schädel in Berlin vermutet, als Teil einer obskuren Sammlung des Österreichers Felix von Luschan. Der Anthropologe und Ethnograph ließ um das Jahr 1900 herum auf der ganzen Welt menschliche Schädel einsammeln. Tausende wurden zu ihm nach Berlin verschifft. Ein Teil von Luschans Sammlung befindet sich heute im Archiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Doch Mangi Melis Schädel wurde dort bisher nicht gefunden.
Der Ort, an dem sich heute Old Moshi befindet, war lange vor der Ankunft der Deutschen ein wichtiger Handelsknoten, gelegen an einem Karawanenweg südlich des Kilimandscharo-Massivs. Zum Victoriasee und dem dahinterliegenden Hochland im Westen sowie zu den Küstenorten am Indischen Ozean im Osten ist es von hier aus ähnlich weit.
Um 1900 war hier der Hauptsitz der deutschen Verwaltung dieser Gegend. Einige Spuren sind auch heute noch sichtbar. Etwa eine kleine Markthalle, über deren Rampe einmal Bauern ihre Erzeugnisse abgeliefert haben. Oder eine Kirche, gestiftet von Lutheranern aus Leipzig. Im Dach hat sie Löcher, die Balken modern vor sich hin, doch die Glocke läutet noch. Wenige Meter entfernt liegen Grabsteine mit deutschen Inschriften.
Die verrosteten Schließfächer der kleinen Post sollen schon von deutschen Postbeamten gefüllt worden sein, wird im Ort erzählt. Der hintere Teil wurde von den Briten gebaut, an die Deutsch-Ostafrika nach dem Ersten Weltkrieg fiel. Genau wie das graue Steingebäude mit dem Turm, das wie ein Fort wirkt, aber eine Schule war. An ihrer Stelle stand einmal das Verwaltungszentrum des Kaiserreichs am Kilimandscharo. Es existiert nur noch auf Fotos. Sogar einen Tennisplatz haben die Deutschen anlegen lassen. Für die Bewohner von Old Moshi ist die Vorstellung, wie weiße Männer mit Tropenhelmen hier vor 120 Jahren um Satzbälle kämpften, der Witz des Jahrhunderts - an Absurdität kaum zu überbieten.
Im März 1884 gründete Carl Peters die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft. Peters war ein Rassist und Gewalttäter, der von kolonialkritischen Zeitungen als "Hänge-Peters" bezeichnet wurde und unter den Afrikanern den Spitznamen "blutige Hand" trug. Ursprünglich wollte er Gold im heutigen Simbabwe schürfen. Da dies jedoch im Einflussgebiet von Großbritannien lag, änderte er seine Pläne. Im November begleitete Peters eine deutsche Handelsexpedition nach Sansibar, von wo aus er anschließend auf das Festland übersetzte.
Dort schloss Peters sogenannte "Schutzverträge" mit lokalen Herrschern: Eine Garantie, dass den afrikanischen Königen militärische Unterstützung zur Seite steht, sollten sie angegriffen werden. Die Verträge waren ein Bluff, denn die Regierung in Berlin hatte zuvor abgelehnt, die Reise zu unterstützen. Zudem konnten die Afrikaner die Konsequenzen ihrer Unterschriften nicht absehen, da die Texte ausschließlich in deutscher Sprache aufgesetzt waren.
Zurück in Berlin hielt Reichskanzler Otto von Bismarck wenig von den Vereinbarungen, die er abschätzig als "ein Stück Papier mit einigen Neger-Kreuzen drunter" bezeichnete. Peters überzeugte Bismarck jedoch, indem er darauf hinwies, dass der belgische König Leopold II. sein gigantisches Gebiet im Herzen des Kontinents noch weiter nach Osten ausbauen wollte. Dieses hatte er sich auf der Kongo-Konferenz quasi als Privatkolonie von anderen europäischen Mächten abnicken lassen. Zudem wollte der Reichskanzler nicht die nationalistischen Kräfte in seiner Regierung vergraulen. Bismarck änderte also seine Meinung - und sorgte dafür, dass Peters die Schutzbriefe erhielt, unterschrieben vom Kaiser. Das Deutsche Reich war damit Kolonialmacht.
Bis zum Ende des Jahrzehnts drangen die Deutschen weiter nach Westen vor und trafen am Kilimandscharo auf Chief Mandara, Isaria Melis Urgroßvater. Mandara nutzte die Neuankömmlinge anfangs, um sich einen Vorteil gegenüber konkurrierenden Chagga-Anführern zu sichern. Doch die Gewalt, mit der die Schutztruppe vorging, sorgte zunehmend für Spannungen mit den Einheimischen.
1891 kam es zur Katastrophe. Peters, mittlerweile Reichskommissar des Kilimandscharo-Gebiets, entdeckte, dass seine afrikanische Konkubine ein Verhältnis mit seinem Diener hatte. Zur Strafe ließ er beide öffentlich hängen und ihre Dörfer niederbrennen. Mandara war kurze Zeit vorher verstorben und sein Sohn Mangi Meli der neue Chief. Angewidert von der erbarmungslosen Brutalität der Deutschen, organisierte er einen bewaffneten Aufstand, der zunächst einige Monate andauerte.
Carl Peters wurde nach Deutschland zurückbeordert und Jahre später nach einem Disziplinarverfahren unehrenhaft entlassen. Um einem Gerichtsverfahren zu entgehen, setzte er sich nach England ab. Erst zum Ende des Ersten Weltkriegs kehrte er nach Deutschland zurück, wo er schließlich starb. Trotz allem sind im ganzen Land Straßen und Plätze nach ihm benannt. Ursprünglich galt das auch für die Petersallee im Afrikanischen Viertel in Berlin-Wedding. 1986 wurde sie allerdings umgewidmet.
Der Konflikt mit den Chagga dauerte noch einige Jahre an, so dass Mangi Meli zu gewisser Berühmtheit gelangte: der Mann, der sich den Gewehren einer hochentwickelten Industrienation mit Speeren widersetzte. Zu Beginn des Jahres 1900 wurde ihm unterstellt, der Kopf einer Verschwörung gegen die Deutschen zu sein. Nachdem er zum Tode verurteilt worden war, wurde er gemeinsam mit 18 weiteren Anführern der Chagga erhängt. Nach seinem Tod wurde sein Kopf vom Körper abgetrennt und fortgebracht.
Dass der Schädel seines Großvaters nicht in seinem Heimatort bestattet werden kann, ist für Isaria Meli wie eine offene Wunde, die nicht heilen kann. Er wirkt unruhig, wenn er über seine Suche spricht. "Warum haben sie seinen Schädel mitgenommen? Was waren das für Menschen?" Seine grauen Augen werden feucht. Vor anderthalb Jahren machte er sich auf den Weg nach Berlin, um eine DNA-Probe abzugeben.
Bernhard Heeb und sein Team am Archäologischen Zentrum in Mitte haben anhand dieser Referenz sechs Schädel aus der Luschan-Sammlung untersuchen lassen, von denen sie es für möglich hielten, dass einer Mangi Meli zugeordnet werden könnte. Gefunden haben sie nichts.
"Es kann sein, dass er gar nicht aus Afrika heraus ist. Dass er irgendwo dort verblieben ist, durch Kanäle oder Ereignisse, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können", sagt Heeb. "Wenn der Schädel aus Afrika herausgebracht wurde, dann halte ich es nach augenblicklicher Datenlage für am wahrscheinlichsten, dass er in einer Privatsammlung verschwunden ist. Weil dieser Schädel sicherlich auch eine Art Trophäe war." Anhaltspunkte dafür hat Heeb allerdings nicht. Es sei lediglich eine Hypothese, sagt er.
Etwa 5.000 Schädel umfasst die Sammlung, die Felix von Luschan in Berlin hinterließ und nun Teil des Archäologischen Zentrums ist. Viele davon seien stark beschädigt, andere könnten nur sehr schwer irgendeiner Region zugeordnet werden. Etwa nochmal so viele sind im Besitz eines Museums in New York, Luschans Privatsammlung. "Er war der Meinung, je mehr Schädel er hat, umso mehr Daten hat er, umso eher kann er seine Fragestellungen beantworten", sagt Heeb über Luschan. "Das ist natürlich aus wissenschaftlicher Sicht nachvollziehbar. Nur die Art und Weise und tatsächlich auch die Sammelwut, die fast schon festzustellen ist, sind heute nicht mehr nachvollziehbar."
Viele Schädel wurden von Gräbern gestohlen und waren nicht alt genug, um etwas über die menschliche Evolution aussagen zu können. Dafür erzählt die Sammlung einiges über die Kolonialzeit. "Sie sagt uns vor allem etwas darüber, wie die deutschen Kolonialherren miteinander vernetzt waren", sagt Heeb. "Luschan war überhaupt erst in der Lage, so viele Schädel zu sammeln, weil er auf ein Netzwerk aus Militärs, Missionaren, aber auch Abenteurern und Geschäftsleuten zurückgreifen konnte."
Momentan versuchen Heeb und sein Team den Teil der Sammlung aufzuarbeiten, der aus Ostafrika stammt. Etwa 900 Schädel können wohl Völkern aus dem heutigen Ruanda zugeordnet werden. Sie sollen zurückgegeben werden. "Wenn aber ein Schädel beziehungsweise seine Herkunft gar nicht identifizierbar ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendein Land diesen haben möchte." Was dann mit diesen Knochen passiert, sei völlig offen, sagt Heeb. "Werden die bei uns bleiben? Werden sie bestattet? Nach welchem Ritus könnte das geschehen?"
Im Januar hat der Bezirk Moshi offizell beantragt, dass menschliche Knochen, die sich im Archiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz befinden, rücküberführt werden. "Diese Forderungen liegen auch dem Auswärtigen Amt vor", sagt Konradin Kunze. Er war es, der Isaria Meli die Nachricht überbringen musste, dass keiner der sechs Schädel seinem Großvater zugeordnet werden konnte. Er sagt, für Isaria Meli sei das ein Schock gewesen, er habe das lange nicht verstehen können.
Gemeinsam mit dem Berliner Künstlerkollektiv Flinn Works hat Kunze einen Film über Mangi Meli produziert, der nun in einer Ausstellung in Old Moshi zu sehen ist. Der Film erzählt auf Swahili, Deutsch oder Englisch vom Leben und Tod des Widerstandskämpfers. "Das ist wichtig, damit unsere Kinder erfahren, was hier passiert ist und von wem sie abstammen", sagt sein Enkel Isaria. Der Besuch in der deutschen Hauptstadt, die erste große Reise seines Lebens, hat ihn nachhaltig bewegt. "Alles ist sauber, die modernen Autos, die Züge, die unter der Stadt fahren. Ihr Deutschen lebt im Paradies."
Eine goldfarbene Büste erinnert seit Kurzem an Mangi Meli. Sie steht unter dem Baum, an dem er starb. Auch sie kann Isaria Meli gut von seiner Bank aus sehen. Er weiß zwar noch nicht wie, aber der 87-Jährige will weiter suchen. "Wenn ihr etwas von Mangi Meli hört, sagt mir Bescheid."
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"Wir müssen anfangen über Rückgabe zu sprechen", erschienen am 9. Februar 2020
Der Knochenberg, erschienen am 16. Februar 2020
Die Überwindung der Berlinisation, erschienen am 23. Februar 2020
Beitrag von Oliver Noffke
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