100 Jahre "Nosferatu"
1922 feiert ein Horrorfilm Weltpremiere in Berlin. Vampir "Nosferatu" bringt die Pest - kurz zuvor tötete die Spanische Grippe in der Hauptstadt Zehntausende. Der Film floppt zunächst, heute ist es eines der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte. Von Anne Kohlick
"Eine Symphonie des Grauens wollen Sie sehen? Sie dürfen mehr erwarten": Mit diesen geheimnisvollen Worten wurde vor 100 Jahren ein Film beworben, der unser Bild von Vampiren bis heute prägt. Ein hagerer Schatten huscht eine Treppe hinauf. Die Umrisse langer, krallenartiger Finger zeichnen sich an der Wand ab. Gleich wird der Untote Nosferatu - der Name lehnt sich an das transsilvanische Wort für Teufel Nesuferitu an - seine Eckzähne in den Hals einer schlafenden Frau rammen.
Der Vampir geistert auf Plakaten und Anzeigen schon lange vor der rauschenden Premierenfeier im Marmorsaal des Zoologischen Gartens am 4. März 1922 durch Berlin. Die Werbekosten übersteigen sogar die Produktionskosten des Stummfilms "Nosferatu". In den Kinos floppt der Vampir-Horror aber - trotz lobender Kritiken in den Zeitungen: für die einzigartige Bildsprache, das Spiel mit dem Hell-Dunkel von Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau und Kameramann Fritz Arno Wagner.
Wäre es nach einem Berliner Gerichtsurteil von 1925 gegangen, würde "Nosferatu" heute überhaupt nicht mehr existieren: Alle Filmrollen sollten vernichtet werden. Ein Copyright-Streit mit der Witwe von "Dracula"-Romanautor Bram Stoker hätte fast eines der wichtigsten Werke des deutschen Expressionismus ausgelöscht.
Wie der Vampir-Klassiker doch überdauern konnte und warum "Nosferatu" bis heute einer der meistgezeigten Stummfilme weltweit ist - stilprägend für Bücher, Kino, Popkultur - davon erzählt ab Freitag, den 16.12., die neue Ausstellung "Phantome der Nacht - 100 Jahre Nosferatu" [nosferatuinberlin.de] in der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin. Zeit für einen Rückblick.
Das Drehbuch zu "Nosferatu" lehnt sich an Bram Stokers berühmten Vampirroman "Dracula" von 1897 an. Die gerade erst gegründete Berliner Produktionsfirma Prana Film GmbH versäumt allerdings, im Vorfeld der Dreharbeiten 1921 die Rechte am Stoff mit Stokers Witwe zu klären. Stattdessen sollen neue Namen für die Figuren und andere Schauplätze von den - trotzdem offensichtlichen - Ähnlichkeiten zum "Dracula"-Roman ablenken.
Aus der fiktiven deutschen Kleinstadt Wisborg (gedreht wird vor allem in Wismar) bricht in der Zeit des Biedermeier der junge Thomas Hutter (Gustav von Wangenheim) zu einer Dienstreise nach Transsilvanien auf. Im Auftrag seines Chefs soll er dort den Grafen Orlok (Max Schreck) treffen. Der zeigt sich bei der Begegnung fasziniert von einem Bild, das Hutter von seiner schönen Ehefrau Ellen (Greta Schröder) bei sich trägt. In der Nacht entpuppt sich der Graf als Vampir, der sich unverzüglich auf den Weg zum auserkorenen Opfer Ellen macht.
Mit dem Schiff reist Orlok alias Nosferatu nach Wisborg - begleitet von Ratten, die entlang seiner Route die Pest verbreiten. Das Wort Nosferatu, das Bram Stoker zweimal in seinem "Dracula"-Roman im Sinne von "Untoter" verwendet, könnte sich auch vom Dämon Nosophoros, dem "Pestbringer", aus der griechischen Volksmythologie ableiten.
Denn mit dem Vampir kommt die Seuche nach Wisborg. Viele Menschen sterben an der Pest, bis Ellen sich opfert und Nosferatu bei sich behält - bis die Strahlen der Morgensonne ihn treffen. Als Thomas Hutter zurückkehrt, ist seine Frau tot - ausgesaugt vom Vampir, der sich in Rauch und Asche aufgelöst hat.
Berlin ist 1922 eine Stadt, in der das Grauen nicht nur auf der Leinwand präsent ist: Verstümmelte Veteranen des Ersten Weltkriegs prägen das Straßenbild. Es ist erst wenige Jahre her, dass die Spanische Grippe in der Hauptstadt mehr als 50.000 Menschen getötet hat, als der Seuchenbringer "Nosferatu" ins Kino kommt.
Kunsthistoriker Jürgen Müller, Kurator der Ausstellung zu "100 Jahre Nosferatu", interpretiert den Film-Vampir als Wiedergänger der unheilbringenden antisemitischen Figur des "Ewigen Juden": Er stehe für Wanderschaft, Unreinheit, Verborgenheit. "Mit dem Antisemitismus der Weimarer Zeit geht eine Metaphorik des Vampirismus einher", schreibt Müller, "in der vom deutschen Volkskörper die Rede ist, der durch ausländische Parasiten ausgesaugt werde". Der Kunsthistoriker sieht "Nosferatu" damit nicht nur als Horrorfilm, sondern als politisches Statement - gegen die Einwanderung jüdischer Menschen aus Osteuropa in die Weimarer Republik.
Gedreht wird der Film unter der Regie von Friedrich Wilhelm Murnau 1921 unter anderem in Wismar, Lübeck und den rumänischen Karpaten. Anders als "Das Cabinet des Dr. Caligari", das 1919 komplett im Studio entsteht und die Künstlichkeit seiner expressionistischen Kulissen betont, setzt "Nosferatu" auf reale Schauplätze für die Außenszenen. Die aufwändigen Drehreisen machen den Film allerdings teuer.
Die Innenaufnahmen entstehen preisgünstiger in der Johannisthaler Filmanstalt: In den Werkshallen im Südosten Berlins wurden noch während des Ersten Weltkriegs Flugzeuge gebaut, doch der Versailler Vertrag schränkt diesen Industriezweig in Deutschland stark ein. Seit 1920 haben die ehemaligen "Albatros"-Werke deshalb umgerüstet - und bieten jetzt Filmteams Raum.
Im Zentrum der Dreharbeiten von "Nosferatu" steht der titelgebende Vampir, gespielt von Max Schreck (1879-1936) - so überzeugend, dass bald Gerüchte zirkulieren, der Berliner sei wirklich ein Untoter. Diese Idee greift der Film "Shadow of the Vampire" von 2000 auf: Er spielt während der Dreharbeiten zu "Nosferatu" 1921 und erzählt, wie Max Schreck (Willem Dafoe) am Set das Blut so manches Crewmitglieds aussaugt.
Fakt ist: Alle am Film Beteiligten haben die Dreharbeiten überlebt - aber für die junge Produktionsfirma bedeutet der kommerzielle Misserfolg von "Nosferatu" das Ende. Im August 1922 meldet die Prana Film GmbH des künstlerischen Direktors Albin Grau in Berlin Konkurs an - drei Jahre bevor Bram Stokers Witwe gegen die unautorisierte Verfilmung des "Dracula"-Stoffes klagt. Als ein Berliner Gericht ihr 1925 Recht gibt, ist von den "Nosferatu"-Machern längst kein Geld mehr zu holen.
Wegen der Urheberrechtsverletzungen hat das Gericht angeordnet, alle Kopien des Films zu zerstören. Doch das Urteil wird nicht vollständig umgesetzt - längst zirkulieren international zu viele "Nosferatu"-Filmrollen, unter anderem in den USA. Ein Stück Filmgeschichte bleibt durch diesen Glücksfall erhalten.
Anders ergeht es dem 1920 veröffentlichten ungarischen Vampirfilm "Drakula halála" ("Draculas Tod"), gegen den Stokers Witwe ebenfalls klagt. In diesem Fall hat sich keine einzige Filmrolle erhalten - heute ist dessen Existenz nur noch durch Werbematerial und Zeitungsberichte bezeugt. Eine erste offizielle "Dracula"-Verfilmung entsteht übrigens erst 1931 in den Universal Studios in Kalifornien - mit Bela Lugosi in der Titelrolle.
Doch zu diesem Zeitpunkt hat "Nosferatu" das Bild des Vampirs für die Nachwelt schon entscheidend geprägt - und viele Elemente des modernen Vampirfilms etabliert: Schlafen in Särgen, zwei runde Einstichstellen der Eckzähne in den Hals der Opfer. Die Szene, in der Nosferatus Schatten die Treppe hinaufschleicht, wurde wieder und wieder in Filmen zitiert und variiert - ebenso wie sich Nosferatu auf magische Weise kerzengerade aus seinem Sarg erhebt: ein früher Special Effect durch Stop-Motion-Animation.
Nosferatu hat im kollektiven Gedächtnis seit der Filmpremiere in Berlin 100 Jahre überdauert und seine Spinnenfinger in Comics, bildende Kunst und Popkultur ausgestreckt. Sogar in die Zeichentrickserie "Spongebob Schwammkopf" hat sich der Vampir eingeschlichen: Standesgemäß kündigt er sich dort mit dramatischen Hell-Dunkel-Effekten an.
Ob diese Kultfigur sich eines Tages nicht in der Morgensonne, sondern im Vergessen auflöst? Eine Werbeanzeige von 1921 für "Nosferatu" könnte die Antwort auf diese Frage sein: "Seien Sie vorsichtig", heißt es da, "Nosferatu ist kein Scherz, über den man banale Bemerkungen macht." Denn: "Nosferatu stirbt nicht."
Beitrag von Anne Kohlick
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