Ausstellung | Ein Klavier, eine Puppe, ein Stück Stoff
Für drei Wochen wird der Deutsche Bundestag zum Ausstellungsort - für eine Ausstellung von Alltagsgegenständen, die an den Holocaust erinnern. Zur Eröffnung gibt Bundesfinanzminister Christian Lindner ein Versprechen. Von Corinne Orlowski
"Nimm das Leben leicht und deine Pflichten ernst", schreibt der Vater 1937 ins Poesiealbum seiner Tochter Lilo aus Saarbrücken. Sie wurde in Auschwitz ermordet, aber das Album hat die Zeit überdauert. Wie auch die Miniatur-Keramikküche von Anneliese Dreifuss aus Stuttgart oder das Handtuch samt Weihnachtsgruß der Familie Laufmann in Wolmirstedt. Die Gegenstände wurden dem Museum Yad Vashem in Jerusalem übergeben, der bedeutendsten Gedenkstätte, die an die nationalsozialistische Judenvernichtung erinnert und sie wissenschaftlich dokumentiert.
Sechzehn persönliche Gegenstände von Menschen, die Deutschland einst verlassen mussten, kehren nun erstmals wieder zurück. Jedes Objekt kommt aus einem anderen Bundesland. Jedes einzelne ist aus dem alltäglichen Leben und ganz verschieden: groß wie ein Klavier, intim wie ein Tagebuch, wertvoll wie ein silberner Aufsatz für die Thorarolle, schlicht wie ein Stück Papier.
"Diese Objekte bezeugen einen menschlichen und kulturellen Reichtum, den Deutsche systematisch vernichtet haben", sagt Bundestagpräsidentin Bärbel Bas bei der Eröffnung der Ausstellung. Sie symbolisieren den unwiederbringlichen Verlust, den das Menschheitsverbrechen des Holocaust verursacht hat und stehen für Lücken, die sich nicht schließen lassen.
Es hätte wohl kaum einen besseren Ort geben können als das Zentrum der parlamentarischen Demokratie, den Deutschen Bundestag. Darüber freut sich auch die Kuratorin der Ausstellung und Geschäftsführerin des Freundeskreises Yad Vashem, Ruth Ur. Ihr Ziel ist es, dass jede Person, ob Politiker, Reinigungspersonal oder Hausgast, plötzlich bemerkt: "Das Klavier sieht ja aus wie das bei der Oma, die Puppe wie eine vom Flohmarkt. Jeder wird diese Objekte erkennen."
Wie die Puppe "Inge" von Lore Mayerfeld, geborene Stern. Achtzig Jahre war sie nicht in Deutschland. Sie ist extra aus Israel angereist. Mittlerweile hat sie 29 Urenkelkinder. Die Puppe hat den Schlafanzug an, den die kaum zweijährige Lore Stern einst in der Nacht des Novemberpogroms in Kassel trug. "Es ist eine Puppe, die zerbrechlich ist", sagt Mayerfeld, "und meine Kinder haben nie mit dieser Puppe gespielt, nur angesehen. Wir haben alle gedacht, der beste Platz für diese Puppe ist Yad Yashem, wo jeder kommen und die Geschichte der Puppe sehen kann."
Nun sitzt die Puppe Inge auf einem Sockel hinter Glas, in der 200 Meter langen, lichtdurchfluteten Halle des Paul-Löbe-Hauses. Es wirkt ein bisschen wie auf einem Bahnhof – eher eine unpassende Atmosphäre für solch eine Schau mit emotionalen Erinnerungsstücken. Links und rechts türmen sich die achtgeschossigen Zylinder aus Glas und Beton. Am Eingang ein "Fahrplan" des Tages, 14 Uhr Sportausschuss, EU-Ausschuss, Ältestenrat. An den halbrunden Pappaufstellern kommt man aber nicht vorbei. Sie separieren die einzelnen Objekte, an denen seitlich ein beiger Vorhang drapiert ist, um zu zeigen, sie hatten alle ein Zuhause.
"Wir wollen die Leute nicht durchs Lesen erreichen, eher durch die Augen und durch das Herz - und dann soll man Lust haben zu lesen," sagt Ur zur Gestaltung. Besonders berührend ist ein vergilbter Stofffetzen, das Fragment einer Fahne des Jugendbundes "Maccabi Hatzair" aus Ahrensdorf in Brandenburg. Anneliese Borinski war dort Ausbilderin auf einem Hachschara-Hof. Als die Gestapo die Kontrolle übernahm, zerschnitten die Jugendlichen und ihre Ausbilder als Symbol ihrer Gemeinschaft ihre Fahne in zwölf Stücke und versprachen einander, sie nach dem Krieg in Israel wieder zusammenzusetzen. Es überlebten nur drei von ihnen den Holocaust. So erzählt ein Stück Stoff vom Schicksal ihrer Besitzerin.
Bundesfinanzminister Christian Lindner ist sichtlich gerührt und nimmt die Ausstellung als Anlass für ein Versprechen. Er möchte "vom heutigen Tag an" mit der Gedenkstätte Yad Vashem in einen Austausch eintreten und einen institutionellen, dauerhaften Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Yad Vashem und der Bundesrepublik Deutschland schaffen. "Denn gemeinsam stehen wir vor der Aufgabe, in der ganzen Welt, aber auch in Deutschland, immer daran zu erinnern, dass es ein Menschheitsverbrechen gab, dass aber immer Menschlichkeit möglich ist", so Lindner.
Nun, da bald keine Zeitzeugen mehr da sind, wächst die erzählerische Kraft von Objekten. Sie können sie nicht ersetzen, aber der Geschichte trotzdem einen emotionalen Zugang ermöglichen, denn sie sind stumme Zeugen, die auf ihre Art berühren.
Die Ausstellung "Sechzehn Objekte - Siebzig Jahre Yad Vashem" kann vom 25. Januar 2023 bis zum 17. Februar 2023 im Paul-Löbe-Haus nach vorheriger Anmeldung montags bis freitags in der Zeit von 9 bis 17 Uhr besucht werden. Infos finden Sie unter bundestag.de
Sendung: rbb Inforadio, 25.01.2023, 07:00Uhr
Beitrag von Corinne Orlowski
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