Theaterkritik | "Iwanow" im BE
Yana Ross verlegt am Berliner Ensemble Tschechows "Iwanow" in ein Vereinsheim in Gütersloh. Ein hochtouriger Abend, der in seiner Grobschlächtigkeit extrem an den Nerven zehrt. Von Fabian Wallmeier
Ein privilegierter, aber verschuldeter Typ in der russischen Provinz langweilt sich selbstmitleidig und wortreich. Er ignoriert seine Geldsorgen und anstatt mit seiner schwerkranken Frau zur Kur zu fahren, hängt er lieber auf dem Gut von Bekannten rum. Er hat etwas mit der jungen Tochter seines Bekannten, seine Frau und ihr Freund und Arzt stellen ihm heimlich nach. Die Frau stirbt, er will die Tochter heiraten, entdeckt aber sein Gewissen und erschießt sich.
Das ist in etwa die Handlung von Anton Tschechows "Iwanow" - und keine Sorge, hier wird nicht zu Beginn gleich böse gespoilert, denn in Yana Ross' Inszenierung am Berliner Ensemble, die am Samstagabend Premiere feierte, läuft die Geschichte ein bisschen anders. Ross hat mit ihrem Team den Tschechow-Text radikal ins Heute verlegt.
Statt an verschiedenen Orten in der russischen Provinz spielt der dreistündige Abend komplett in einem Tennis-Club in Gütersloh. Alle Figuren haben moderne deutsche Namen, bekommen aber im Programmheft in Klammern noch artig das Pendant aus Tschechows Original dazu geschrieben, damit man schön nachlesen und vergleichen kann. Iwanow etwa heißt hier Nicolas. Und wo sich Tschechow noch nicht so richtig zwischen Komödie und Tragödie entscheiden konnte und den Text im Nachhinein umschrieb, setzt Ross ganz und gar auf Erstere.
In seiner Hochtourigkeit erinnert Ross' "Iwanow" an die Klassiker-Überschreibungen, mit denen der Australier Simon Stone seit einigen Jahren höchst erfolgreich die deutschsprachigen Bühnen traktiert. (Am BE etwa hat er vor ein paar Jahren aus drei antiken Dramen "Eine griechische Trilogie" gezimmert.) Doch während Stone seine grundsätzlich wohlhabenden Protagonist:innen in modernistisch edlen architektonischen Kältekammern recht pointiert geschliffene Bosheiten aufsagen lässt, ist bei Ross alles ein paar Nummern kleiner.
Das Tennis-Vereinsheim strahlt mit seiner billigen Schäbigkeit schon die traurige Mittelmäßigkeit aus, in der die Figuren hier ihr Dasein fristen. Wenn gefeiert wird, gibt es Karaoke, jämmerliche Partyhüte und reichlich Klaren vom Plastik-Schnapstablett. Und früher, klagt immer wieder einer, seien die Partys eh viel besser gewesen.
Iwanow-Pendant Nicolas (Peter Moltzen) ist ein hypochondrisch veranlagter und selbstmitleidiger Schwätzer. Er hängt schwerfällig auf seinem aschgrauen Velour-Drehsessel und faselt von Kopfschmerzen, sobald er an seine Schulden erinnert wird oder wenn andere ihn gar dazu nötigen wollen, sich um seine krebskranke Frau Sarah (Constanze Becker) zu kümmern.
Schnell entwickelt sich der Abend zu einem sehr tristen Komödienstadl. Alles, worüber man mutmaßlich in einem solchen Vereinsheim so den lieben langen Tag redet, kommt hier auf den Tisch. Aber Ross gewinnt dem tristen Erwartbaren keine Geistesblitze oder Erkenntnisse ab, sondern steigert es nur grobschlächtig.
Zwei Beispiele: Bei einem Stuhlkreis etwa soll einmal jede:r sagen, welches Wort er:sie nicht mehr hören möchte, weil es sie:ihn triggert - und es kommt zum gähnend langweiligen schrillen Schlagabtausch zwischen der woken Jugend und der besoffenen "Man wird ja wohl noch"-Fraktion. Das zweite Beispiel: Zwischendurch soll immer wieder in Gestalt der jungen Influencerin Marta (Zoë Valks) die Substanzlosigkeit sozialer Medien vorgeführt werden, doch die Persiflagen sind so simpel gedacht und sprachlich so schludrig, dass sie selbst in der Substanzlosigkeit stecken bleiben.
Nach der Pause flicht Ross ein paar surreale Sequenzen mit Dämmerlicht und Nebel ein, schaltet dann aber gleich wieder auf den nervenzehrenden Stadl um, sodass auch hier nichts verfängt. Auch ein paar literarische Verweise wirken deplatziert. David Foster Wallace etwa, selbst einst Tennisspieler und Autor von "Unendlicher Spaß", in dem Tennis eine zentrale Rolle spielt, taucht mindestens doppelt auf: Rein optisch kann man ihn in der Gestalt des schlaksigen langhaarigen Platzwarts Michael (Maximilian Diehle) erkennen - und als langes direktes Zitat ganz am Anfang und gegen Ende mit Betrachtungen über einen im Kochtopf verendenden Hummer. Doch all das hilft nicht dabei, den Abend auf eine höhere Ebene zu heben.
Das zehnköpfige Ensemble wirft sich größtenteils mit sichtlichem Vergnügen in das überdrehte Einerlei, aber es gibt hier einfach wenig zu retten. Einer der seltenen Lichtblicke ist Jonathan Kempf als Jürgen, der Arzt und Vertraute der kranken Sarah, der nach der Erfüllung seines Jahresvertrags einfach nur weg will aus Gütersloh. Er spricht immer wieder mit treffsicherer Genervtheit aus, was wohl viele im Publikum über die hysterischen Dampfplauderer auf der Bühne denken. "Findet ihr das jetzt wirklich so lustig", fragt er etwa einmal.
Also Jürgen, wenn du mich fragst: Nein, ich finde das wirklich nicht so lustig.
Sendung: rbb24, 22.01.2023, 7.55 Uhr
Beitrag von Fabian Wallmeier
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