Das Musical "Linie 1" darf mit Fug und Recht als Berliner Kulturgut gelten. Nach fast 40 Jahren hat das Grips-Theater dem Kassenschlager einen neuen Anstrich verpasst. Die Premiere wurde vom Publikum begeistert aufgenommen. Von Cora Knoblauch
Wahrscheinlich konnten sich Ende der 1980er Jahre mehr Schüler:innen nach ihrer Berlin-Klassenfahrt an das Musical "Linie 1" erinnern als ans Brandenburger Tor. Generationen von Schulklassen sind seit dessen Uraufführung 1986 nach Berlin gepilgert, auch um im Grips-Theater das Kultmusical zu sehen.
Die Story: Natalie, eine junge Frau aus der westdeutschen Provinz, haut ab nach Berlin. Am Bahnhof Zoo will sie ihren Flirt, den Rockmusiker Johnny, treffen. Doch als sie dort früh am Morgen ankommt, wartet niemand auf sie. Also macht sich Natalie auf die Suche nach Johnny und bleibt hängen in der U-Bahn-Linie 1. Dort trifft sie Punks, Obdachlose und ruppige Großstädter.
1986: Bahnhof Zoo ist Treffpunkt für Junkies
Nun schickt das Grips-Theater eine restaurierte Version seines Klassikers auf die Bühnenbretter. Die Story spielt immer noch 1986. Der Bahnhof Zoo ist Treffpunkt für Junkies und Obdachlose. Und wenn man nach Kreuzberg will, wie Natalie, dann steigt man hier ein in die U1 Richtung Schlesisches Tor.
Neben der Geschichte geblieben sind fast alle Figuren wie Schlucki, Bambi, Lumpi und Kleister, die Wilmersdorfer Witwen, Hermann und die Bouletten-Trude. Neu sind die Kostüme - und die sind der Kracher: weiße Herrenslipper á la Rolf Eden, enge Glitzerkleider, reichlich Schulterpolster und Wildlederblousons, Lack-Pumps und diese grauenvollen, aber wieder total angesagten Ballonhosen im David-Bowie-Style. Kostümbildnerin Mascha Schubert hat wirklich das Beste und Schrillste der 1980er Jahre zusammengetragen, manch einem Teenie wird allein beim Anblick der Klamotten das Herz höher schlagen.
"Provokant, frech, radikal und politisch unkorrekt" – die neue Show vom Circus Flic Flac wurde von keinem Geringeren als Rammstein-Frontmann Till Lindemann kuratiert. Sie provoziert vor allem mit nackten Tatsachen und schlechten Witzen. Von Magdalena Bienert
Noch mehr Achtziger als damals
Alt ist zwar die Band, "No Ticket", die Herren haben mittlerweile das Rentenalter erreicht, aber sie spielen großartig. Die von Volker Ludwig zeitlos gut getexteten und musikalisch von Birger Heymann arrangierten Songs sind zwar grundsätzlich beim Original geblieben, haben aber einen neuen musikalischen Anstrich bekommen: noch mehr Saxophon, noch mehr Synthies, mehr Schlagzeug, liebevolle Zitate aus den großen Popsongs der 1980er Jahre, ein bisschen Blondie, ein bisschen Kraftwerk – die "Linie 1"-Songs hören sich jetzt fast noch mehr nach. den Achtzigern an als damals.
Die "Linie 1" mäandert zwischen einer liebevollen 1980er-Jahre-Hommage und totaler Zeitlosigkeit. Absurd erscheint heute der Gedanke, dass sich die Menschen in der U-Bahn hinter ihrer Zeitung verschanzen und Natalie ihrem Johnny nicht einfach eine Whatsapp-Nachricht schickt.
Die schrägen, schrulligen Typen in der U-Bahn, die Gestrandeten und Kaputten auf den Bahnhöfen, trifft man dagegen damals wie heute. Nun gut, vielleicht sitzen sie heute eher im S-Bahn-Ring als in der U1. Das Erzähltempo des Musicals bleibt in den 1980ern verhaftet, als Zuschauer:innen noch nicht von Netflix-Serien und deren irrwitziger Erzählhektik verhunzt waren.
Die Story der "Linie 1" ist ja im Grunde dünn: Natalie fährt mit der U1 vom Bahnhof Zoo zum Schlesischen Tor und von dort wieder zurück auf der Suche nach Johnny Boy. Das Musical nimmt sich satte drei Stunden Zeit für diese Odyssee. U-Bahnszene hängt an U-Bahnszene, ohne dass die Story irgendwie vorankommt. Heute würde man so ein Stück dramaturgisch sicherlich anders schreiben.
Die Liebesgeschichte "Die Legende von Paul und Paula" war ein Kassenschlager in der DDR und entwickelte sich später zum Kultfilm. Premiere war vor 50 Jahren – nach schwierigen Dreharbeiten, wie sich "Paul"-Darsteller Winfried Glatzeder erinnert.
Fit für die nächsten 20 Jahre
Das Premierenpublikum, vom Alter her schon in den 1980er Jahren nicht mehr ganz jung gewesen, ist jedenfalls begeistert bis euphorisch. Es gibt zahlreichen Szenenapplaus, die Songs werden stumm mitgesungen, fast alle im Publikum sind absolut textsicher. Es wird gelacht, gejohlt und mitgeklatscht.
Ob die Teenies von heute die Songs der "Linie 1" noch genauso zu ihrem Kultur- und Liedgut machen wie viele Teenies in den 1980er und 1990er Jahren, bleibt fraglich. Aber das spielt im Grunde auch keine Rolle. Diese Berlin-Geschichte über Amore, Unabhängigkeit und Freundschaft bleibt für viele Generationen aktuell und interessant - und ist nun fit und frisch für die nächsten zwanzig Jahre. Mindestens.