Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin
Jom haScho'a ist in Israel ein Nationalfeiertag: der Tag zum Gedenken an die Vernichtung des Judentums in Europa. Längst findet dieses Gedenken auch in sozialen Medien statt, zum Beispiel Tiktok. Das Haus der Wannsee-Konferenz macht mit. Von Corinne Orlowski
"Woher wissen wir überhaupt von der Wannsee-Konferenz? Sie war schließlich streng geheim. Der Grund ist: das Protokoll, unser wichtigstes Ausstellungsstück": So beginnt eines von vielen kurzen Erklärvideos, die die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz produziert [tiktok.com]. Damit folgt sie einem neuen Trend, denn immer mehr ehemalige Konzentrationslager und andere Gedenkstätten setzen verstärkt auf TikTok. Aber: Ernste Inhalte neben lustigen Tanz- und Tiervideos, ist das eine gute Idee?
Ja, sagt Jennifer Heidtke, die persönliche Referentin der Direktorin und Verantwortliche für den Account. "Ich bin der Meinung, dass TikTok die Zukunft ist. Die Erinnerungsarbeit mit Social Media zu verbinden, auch mit Instagram, ist einfach super wichtig", sagt Heidtke. Denn dort erreiche man neue Zielgruppen. "Die meisten Leute denken ja, auf Tiktok, das sind die 18-jährigen. Das stimmt überhaupt nicht. Das ist bei uns ausgeglichen. Ich würde sagen, die größte Altersgruppe bei uns, der Schwerpunkt, der ist so zwischen 24 und 54."
Auf antisemitische und holocaustrelativierende Äußerungen reagieren Heidtke und ihre Kollegin auf Tiktok sofort, greifen manches im nächsten Video auf. "In den Kommentaren unter unserem letzten Video hat jemand auf die Verwendung des Wortes Shoah mit zwei Emojis reagiert", sagt Heidtke in einem Video. Zu sehen ist eines mit errötendem Gesicht und mit Hand vorm Mund sowie eines, das die Augen verdreht. "Das kann man unterschiedlich interpretieren, auf jeden Fall kommt dadurch Irritation zur Geltung. Das ist verständlich, denn der Begriff Shoah ist in der deutschen Öffentlichkeit nicht etabliert. Viel verbreiteter ist der Begriff Holocaust", sagt Heidtke.
Dazu erklärt sie auch in einem der Tiktok-Videos: Holocaust bedeutet Brandopfer, Shoah kommt aus dem Hebräischen und bedeutet Katastrophe. Das Haus der Wannsee-Konferenz und weitere Gedenkstätten setzen mittlerweile vermehrt den Begriff Shoah ein, wenn es um die systematische Ermordung von Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit geht. "Denn wir sind als Gesellschaft sensibler geworden, was die Verwendung von Bezeichnung angeht. Wir orientieren uns nun eher an dem Begriff der Betroffenen", sagt Heidtke. Es sei aber keinesfalls falsch, den Begriff Holocaust zu verwenden.
Mit ihren Erklärvideos haben Jennifer Heidtke und ihre Kollegin Erfolg, wie sie sagen. Zusammen produzieren sie zwei bis drei Videos in der Woche. Ermutigt wurden sie durch die Tiktok-Gedenkinitiative "Shoah Education and Commemoration Initiative", an der im Moment 14 Gedenkstätten teilnehmen. Für dieses Engagement ist TikTok im vergangenen Oktober mit dem Shimon-Peres-Preis ausgezeichnet worden.
Angeboten wird auch ein mehrmonatiges Videoseminar. Dort geben TikTok-Mitarbeiter:innen Tipps, wie sich mit Hashtags, Musik und Effekten mehr Reichweite generieren lässt. Und das zeigt Wirkung. Seit sie die Tipps anwendeten, sei die Interaktion auf dem Kanal des Hauses der Wannsee-Konferenz gestiegen, sagen die Mitarbeiterinnen. "Wir hatten unter unserem vorletzten Video auf einmal über 115 Kommentare und vorher - wenn wir Glück hatten - drei", erzählt Heidtke. Das alles müsse gut moderiert werden und mache eine Menge Arbeit. Aber die lohne sich, weil man direkt mit der Community in Kontakt komme.
Jennifer Heidtke hat schon zwei Mal am Videoseminar teilgenommen, wie sie sagt. Sie erklärt, dass es gar nicht wichtig sei, gut auszusehen. Viel entscheidender um viral zu gehen, seien die Dynamik der Schnitte und nahe Filmaufnahmen. Wichtig sei ihr dabei auch der Kontakt mit anderen Gedenkstätten, wie Dachau, Mauthausen oder Ravensbrück.
Aber wie kann man zu dem Thema angemessen informieren? Was gibt es für Herausforderungen? Und inwiefern können Gedenkstätten hier zusammenarbeiten? Allein die Frage nach der Musik bereitet Jennifer Heidtke Kopfzerbrechen. Sie beobachte, dass die Videos zum Thema Holocaust auf TikTok kontrovers diskutiert werden.
Außerdem ist die chinesische Plattform umstritten: Es gibt Sicherheitsbedenken wegen des Verdachts auf Spionage und der Verbreitung von Propaganda. Diverse Regierungen von EU-Mitgliedsländern haben ihren Mitarbeiter:innen Tiktok auf dem Diensthandy verboten. Der US-Bundesstaat Montana will Tiktok in seinem Gebiet sogar ganz untersagen. In China selbst ist die App gar nicht verfügbar.
Das alles spiele für die digitale Erinnerungskultur noch eine untergeordnete Rolle, sagt Jennifer Heidtke. "Wir diskutieren auch intern immer wieder darüber und da muss man ständig neu evaluieren und schauen, inwiefern man TikTok als Institution nutzen kann", sagt sie. Interesse, mal wieder das Haus der Wannsee-Konferenz zu besuchen, weckt der Account aber tatsächlich. Man erfährt unter anderem, dass dreißig Exemplare des Protokolls angefertigt wurden, aber nur ein einziges ist seit dem Kriegsende 1945 wieder aufgetaucht. Dieses ging an den Konferenzteilnehmer Martin Luther vom Auswärtigem Amt. Nur von ihm wissen wir von der Planung des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden. Den passenden Teaser am Thema dranzubleiben, liefert Jennifer Heidtke in ihrem Tiktok-Video: "Wenn ihr wissen wollt, warum sein Exemplar der Aktenvernichtung entging, schaut euch Teil 2 an."
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.04.2023, 07:55 Uhr
Beitrag von Corinne Orlowski, rbbKultur
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