Igor Strawinskys "Le Sacre du printemps" wird in Brandenburg an der Havel für ein junges Publikum interpretiert: von Krump-Tänzer:innen. Ein Tanzstil, der auch den Jugendlichen vor Ort nicht bekannt war. Von Corinne Orlowski
Vier Tänzer und eine Tänzerin stehen um einen großen Kreis aus Sand, lässig in Jogginghosen und bunten T-Shirts. Einer beginnt seine Arme zu bewegen, dann der nächste, zusammen gehen sie in die Hocke und dann... stampfen sie kraftvoll. Staub wird aufgewirbelt. Der Erste überschreitet die Grenze aus Sand, die anderen folgen. Sie werden eine Gruppe und entdecken, dass die Umrandung formbar ist. Der Blick wandert ins Publikum, das Licht wechselt in dramatisches Rot, wirft bedrohliche Schatten.
Bei der Preview von "A Human Race" nach Igor Strawinskys "Le sacre du printemps" sind sieben Einrichtungen aus Brandenburg an der Havel dabei, 6.-10. Klasse, davon zwei Inklusionsgruppen mit Menschen mit Beeinträchtigungen und Erwachsene aus der Suchthilfe. Alle schauen gebannt auf die Bühne. Nur die obligatorischen Huster durchbrechen die Spannung, sonst ist es mucksmäuschenstill. So etwas haben die Jugendlichen noch nie gesehen und vermutlich auch noch nicht gehört.
Europas versierteste Krumper
Krump ist ein energetischer, interaktiver Tanz mit expressiven Bewegungen und stammt aus der Schwarzen Community von Los Angeles. Das ist getanzter Widerstand. Dabei schnellen die Arme in die Höhe, der Körper verschraubt sich, die Moves am Boden erinnern an Breakdance. Nur ist alles beschwörender, kraftvoller, wütender.
Die aggressiven Bewegungen erzählen eine Geschichte, sogenannte "Taunts". Grichka Caruge ist einer der versiertesten Krumper Europas, mehrfacher Weltmeister, er hat die Choreographie zu den verstörenden Klängen von "Le sacre du printemps" mit seinen Tänzer:innen einstudiert. Dabei ist aber auch vieles Freestyle, jede und jeder hat einen und ihren eigenen Stil.
In Brandenburg an der Havel ist das Stück erstmals live mit Orchestermusik zu erleben. Den Dirigenten Michael Balke begleitet das Werk schon lange, wie er im Anschluss im Gespräch mit den Jugendlichen erzählt. Es sei sein Abschlussexamen am Konservatorium gewesen. "Könnt ihr eine Melodie nachsummen aus dem Stück", fragt er in die vollbesetzten Stuhlreihen. Achselzucken und fragende Blicke zu den Nachbarn. "Wahrscheinlich nicht, oder? Genau darum ging es Strawinsky, um diese elementaren Dinge, um Rhythmus. Ich finde ja, das ist moderner als Heavy Metal. Es ist so kraftvoll. Und auch von den Tönen her. Ihr sagt, es klang schön. Das Verrückte ist, wenn ihr mal euren Ellenbogen nehmt und aufs Klavier legt und alle Töne runterdrückt, das klingt total komisch. Hier war das ständig der Fall und trotzdem klingt es schön, wie ihr gesagt habt. Das ist sehr faszinierend."
"Ein Gefühl, das ich nicht beschreiben kann"
"A Human Race" erzählt etwas völlig anderes als Strawinsky mit seiner Geschichte ursprünglich vorgesehen hat. Das Frühlingsopfer (die deutsche Übersetzung von "Le sacre du primtemps") wird neu gedeutet. Keine Jungfrau muss sich mehr zu Tode tanzen. Aber das Kämpferische ist geblieben.
Die außergewöhnliche Rhythmik der Musik nimmt der Krump-Tanz auf. Er drückt den Wunsch nach Freiheit aus. Danach kann man sich das Stück als Ballett kaum noch vorstellen. Ganz schön cool und den Kids fehlen die Worte. Ihre Eindrücke nach der Vorstellung: "Sand." – "Schienbein-Brust" – "Viele Bewegungen." – "Irgendwie aufregend und ich habe noch ein Gefühl, aber ich kann's nicht beschreiben."
Am Ende hat der Sand-Kreis Risse bekommen, gleicht einer Sonne und die Tänzer:innen sind vollkommen nassgeschwitzt. Strawinsky wollte mit seinem "Sacre" die leuchtende Auferstehung der Natur, ja der Welt schildern. "A Human Race" nimmt das zur Grundlage und stellt die Frage nach Zugehörigkeit und Ausbruch und erzählt schlussendlich eine Geschichte des Empowerments. Damit ist es ganz nah dran an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen - für sie aber auch eine vollkommen neue Erfahrung, die erstmal verdaut werden muss.
Die Premiere von "A Human Race" ist am 21. April in Brandenburg an der Havel. Ab Montag, 24. April, wird die Inszenierung im Berliner Podewil gezeigt, dann allerdings ohne die Brandenburger Symphoniker.