Matthäus-Passion an der Deutschen Oper
Bachs einzigartige Passion über das Leiden und Sterben Christi ist ein überzeitliches Werk. Es fasziniert Theologen, Dirigenten, Regisseure und Philosophen. Die Deutsche Oper hat es verbunden mit den Klimaängsten der jungen Generation. Funktioniert das? Von Maria Ossowski
Nein, sie kleben nicht. So weit geht die Aktualisierung dieses erschütterndsten Werkes der Musikgeschichte nicht. Aber eine zornige Doppelgängerin der Greta Thunberg tritt auf, sie liest Teile der Apokalypse, wenn "die Bäume und Gräser brennen", und sie versucht zunächst, Jesus zu retten. Bachs Oratorium auf der Bühne spielen Kinder aus dem Kinderchor der Deutschen Oper nicht als Krippenspiel, sondern, erstaunlich, als Passionsspiel.
Zum letzten Abendmahl falten sie die Tischdecke, tragen ein Stofflämmchen, ein kleiner Judas taucht die Hand mit Jesus in die Schüssel, sie schlafen unter mitgebrachten Ölbäumen, während Jesus mit Gott hadert. Um sie herum greift das Sängerensemble immer wieder ein, tröstet, berichtet, leidet mit.
Das Orchester ist aufgeteilt. Es bildet im größten deutschen Opernhaus ein Kreuz. Die vier Teile sitzen jeweils links und rechts auf der Vorbühne, oben im zweiten Rang und hinter der Hauptbühne. Ein klangliches, ein architektonisch inszeniertes Kreuz. Die drei Chöre sind verteilt auf die Logen links und rechts, Sängerinnen und Sänger aus Laienchören sitzen außerdem im Publikum. Der Dirigent, Allessandro de Marchi koordiniert sie alle aus den ersten Reihen im Parkett. Das klingt überwältigend und in der Mitte des Parketts beachtlich harmonisch.
Überhaupt ist diese Matthäus-Passion sehr hörenswert mit dem hinreißenden Alt der Annika Schlicht - ihre "Erbarme Dich"-Klage war ergreifend - wunderschön auch der Bassbariton von Padraic Rowan als Jesus, der Sopran von Siobhan Stagg und vieles mehr. Joshua Ellicott als Evangelist geht allerdings jede protestantische Zurückhaltung ab, in seiner Lust an dramatischer Oper übertreibt er gelegentlich. Also: musikalisch insgesamt fein und überraschend und passend.
Die Inszenierung von Benedikt von Peter hingegen macht ratlos. Peter Sellars' szenische Einrichtung mit den Berliner Philharmonikern, ein Meilenstein der Simon-Rattle-Ära, hat die Spiritualität des Werkes umgesetzt. An der Deutschen Oper spielen Kinder Verrat, Geißelung, Kreuzigung. Das könnte einerseits ergreifen, andererseits empören: Die Unschuld wird zur Schuld. Sie trägt schwer am Kreuz. Das Mädchen, Greta Thunberg sehr ähnlich, irrlichtert und weiß nicht, ob Jesus nun Opfer ist, "Ruhe sanft", singt der Chor, aber Greta und ihre Helferinnen reißen den Kindern, die eingekuschelt liegen unter dicken Daunendecken, das Bettzeug weg. "Empört Euch", schreit ihre Miene. "Die Zukunft schwindet".
So halten die Kinder zum Schlusschor "Wir setzen uns mit Tränen nieder" Schilder hoch: Demut? Opfer? Angst?
"Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium". So hat Nietzsche die Matthäus-Passion erlebt, diesen Weg in den Tod und das Wissen um die Überwindung desselben. Vielleicht ist die Rezensentin zu etepetete, zu empfindlich, um diesem überzeitlichen Kunstwerk Matthäus-Passion eine, diese Aktualisierung zu verzeihen. Für mich wirkt Greta im biblischen Geschehen profan. Die Klimakrise lässt uns nicht kalt, diese Inszenierung eher.
Sendung: rbb24 Inforadio, 06.05.23, 8 Uhr
Beitrag von Maria Ossowski
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