Konzertkritik | John Scofield in Berlin
Der amerikanische Gitarrist John Scofield gehört seit Mitte der 70er Jahre zu den bekanntesten Musikern des Jazz. Er hat mit Charles Mingus und Miles Davis gespielt. Mittlerweile hat er 50 Jahre Bühnenerfahrung - in Berlin trat er in Socken auf. Von Hans Ackermann
Ganz allein kommt John Scofield zur ersten Hälfte des Konzerts auf die Bühne und begrüßt das Publikum im nahezu ausverkauften Pierre-Boulez-Saal herzlich. Im Arm hält er seine schwarze Jazzgitarre, mit der er sich auf einen etwas erhöhten Stuhl setzt, im Rücken zwei klassische "Fender Deluxe Reverb" - legendäre Röhrenverstärker mit äußerst warmem Ton. Auf dem Boden davor ist ein kleines "Arsenal" von Effektgeräten aufgestellt.
Schuhe trägt Scofield keine, betätigt lieber in schwarzen Socken - und dadurch besonders feinfühlig - das Lautstärkepedal und den dazugehörigen "Looper". Hierbei handelt es sich um eine Art Aufnahmegerät, mit dem man Harmoniefolgen live einspielt und dann - mit sich selbst im Dialog - nach allen Regel der Kunst dazu improvisiert. Dabei ist Scofield berühmt für seine "Inside-Outside"-Improvisationen, bei der er plötzlich aus der eigentlichen Tonart ausbricht - und nach Regeln, die wohl nur Scofield selbst kennt - wieder zur ursprünglichen Tonskala zurückkehrt.
Die elektrische Gitarre zum Sprechen bringen, die Saiten singen lassen - so könnte man das klanglich-künstlerische Vorhaben des John Scofield mit einem Satz und im Prinzip ganz einfach beschreiben - wobei es alles andere als einfach ist, was dieser Altmeister der Jazzgitarre mit seinem Instrument und seinen Gerätschaften macht, etwa wenn er sich Buddy Hollys "Not Fade Away" zur improvsierenden Ausgestaltung vornimmt.
Mit Scofields wunderbar schrulliger Fassung dieses unsterblichen Rock ’n’ Roll-Songs - der 1964, fünf nach Buddy Hollys frühem Tod durch die Rolling Stones weltberühmt wurde - endet nach gut einer Stunde die erste Konzerthälfte. Ein kurzweiliger Solo-Set mit Jazzklassikern wie "My funny Valentine", auf dem Programm aber auch "Julia" von den Beatles und eine besonders anrührende Fassung von "Somewhere" aus Leonard Bernsteins "West Side Story".
Niemand kann so traurige Töne spielen wie John Scofield - der vor genau zehn Jahren seinen Sohn an eine heimtückische Krebserkrankung verloren hat und jedes Jahr zum Todestag von Evan Scofield mit einem Post in den sozialen Netzwerken an diesen Schicksalsschlag erinnert.
Seinen Humor hat sich dieser liebenswürdige, demnächst 72 Jahre alte Gitarrist aber so gut es ging erhalten. Er scherzt immer mal wieder mit dem Publikum, und versichert, dass er an diesem Abend nicht singen werde - was besser für alle sei. Aber die Furchen auf Scofields Stirn und im Gesicht über dem langen weißen Bart sind tiefer geworden.
In der Pause wird die Bühne im ovalen Saal umgebaut. John Scofield spielt und schaut nun in die andere Richtung, wo sein junger Duopartner, der exzellente Pianist Gerald Clayton, am Konzertflügel Platz genommen hat. Er ist der Sohn des Bassisten John Clayton, mit dem John Scofield seit vielen Jahren befreundet ist.
Gerald Clayton konnte man schon 2019 im Pierre-Boulez-Saal erleben, zusammen mit dem Saxophonisten Charles Lloyd, während John Scofield nach 50 Jahren auf der Bühne, mit durchschnittlich 200 Konzerten pro Jahr - was in der Summe unglaubliche 10.000 Auftritte ergibt - tatsächlich zum allerersten Mal an diesem Ort spielt. Worüber er sich riesig freut und für diesen Anlass, wie er dem Publikum erzählt, auch extra einen Song geschrieben hat. Der heißt "Boulez Saal", und ist eine der vielen wunderschönen Jazzballaden an diesem Abend, der nach fast drei Stunden mit stehenden Ovationen für die beiden Musiker endet.
Sendung: rbb24 Inforadio, 26.05.2023, 6:55 Uhr
Beitrag von Hans Ackermann
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