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Video: rbb24 | 10.08.2023 | P. Bastian Welte | Quelle: tanzimaugust.de/J. Caldeira

Internationales Tanzfestival Berlin

Tanz im August startet umjubelt mit portugiesischem Stück "Carcasa"

Aufputschend und kraftvoll: Zur Eröffnung des Festivals Tanz im August legt der Choreograph Marco da Silva Ferreira sein Stück "Carcasa" vor. Eine streitbare Produktion, vom Publikum gefeiert, aber mit Hang zur Beliebigkeit, findet Frank Schmid.

Mit einer Deutschlandpremiere ist Mittwochabend der Tanz im August eröffnet worden, die 35. Ausgabe des Internationalen Tanzfestivals Berlin. Im Hebbel am Ufer zeigte der portugiesische Tänzer, Choreograph und Company-Leiter Marco da Silva Ferreira sein Stück "Carcasa".

Der Stücktitel bedeutet aus dem portugiesischen übersetzt so viel wie "Gerippe" oder "Kadaver" und für Marco da Silva Ferreira ist das ein Sinnbild für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit dem, was davon übriggeblieben ist. Und so zitiert er verschiedene Tanzstile und richtet den Blick in die Geschichte Portugals.

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Das Lied einer Arbeiterin

So lässt er das Lied einer Arbeiterin spielen, von den acht Tänzerinnen und Tänzern inbrünstig mitgesungen, ein Lied, in dem Hunger und Ausbeutung beklagt werden, in dem von einer "wahren Volksdemokratie", angeführt von den Arbeitern, geträumt wird. Ein Lied, in dem es heißt, dass Ausbeutung und Faschismus erst mit dem Untergang des Bürgertums erreicht seien. Ein etwas naiver Traum vom Kommunismus, im Stück erst gegen Ende und unmotiviert, überraschend eingesetzt.

Grundfrage: wie Gemeinschaft entsteht

Denn eigentlich geht es Ferreira um die Frage, wie eine Gemeinschaft entsteht, wie sie aus der Vergangenheit schöpft und Neues entstehen lässt. Dafür zitiert Ferreira zahlreiche Tänze, alte portugiesische Volkstänze und mehrere Urban-Dance-Stile aus den USA und Afrika. Diese sind in Ansätzen erkennbar, werden jedoch in der Regel nur angedeutet, was zu einer Schwäche der Form führt. Ferreira findet zu keinem eigenen Stil, zu keiner eigenen Tanzsprache. Das zwar in bester Absicht, er will das Prinzip der Diversität, der Vielfalt feiern, was auch gelingt, allerdings auf Kosten einer gewissen stilistischen Beliebigkeit.

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Kraftvoller, aufputschender Tanz

Immerhin ist sein Tanz extrem kraftvoll, geradezu aufputschend, zumal die Musik dazu live gespielt wird – mit Schlagzeug und Percussion und DJ am PC. Eine sehr trommel-lastige, rhythmische, antreibende Musik, zu der sich die Tänzerinnen und Tänzer in zahllose Hüpf- und Sprung-Tänze stürzen. Und dass vor allem in Fuß- und Beinarbeit mit flitzenden Spring-Schritten und -Hüpfern, bodennah, auf der Stelle oder durch den Raum flitzend.

Das sind Tänze mit kurzem Auftippen von Fußspitzen und Fersen, mit gekreuzten Füßen bei eher steifen Oberkörpern, aufrecht oder vornübergebeugt, die Arme steif an der Seite oder rudernd und rotierend. Getanzt in geometrischen Formen, in Linien, Kreisen und Sternformen und mit dramatisch übertriebenem Schauspiel, mit Posing – oft auch arhythmisch, nicht im Takt der rhythmischen Trommel-Musik.

Zitate verschiedener Urban-Dance-Stile

Das sind alles Zitate aus diversen Urban-Dance-Stilen: Waacking oder Punking, entstanden in den schwulen Klubs im Los Angeles der 70er Jahre, Kuduro, ursprünglich aus Angola mit flitzendem Hüpfen oder auch Pantsula aus den südafrikanischen Townships der Apartheid-Zeit mit den schnellen Schlurf- und Sprung-Bewegungen. Alles frühere Underground-Tänze, entstanden in Widerstand und Aufbegehren gegen gesellschaftliche Zwänge oder Unterdrückung.

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Vielfalt und Störungen

Ferreira zeigt also eine enorme Vielfalt an verschiedenen Tanzformen und die Tänzer präsentieren das mit enormer Energie und Lebenslust. Zudem spielt Ferreira freizügig mit choreographischen Prinzipien: wie er die Tänzer im Raum verteilt, wie er die Soli einsetzt, wie er Klein-Gruppen entstehen und wieder zersplittern lässt, entspricht nicht den herkömmlichen Erwartungen – er setzt Störungen und Systembrüche in seine Choreographie.

Diese begrüßenswerte Offenheit der Form führt jedoch auch auch zum Eindruck der Beliebigkeit. Seine Grundfrage, wie eine Gemeinschaft sich findet, wie sie sich definiert, auf welchen Regeln und Normen sie sich gründet, beantwortet er nicht. Er feiert lediglich das Prinzip der Diversität.

Allerdings muss gesagt sein, dass zwei Tänzer kurz vor der Deutschlandpremiere krankheitsbedingt ausgefallen sind – das Stück musste umgebaut werden, konnte nicht in der Originalfassung gezeigt werden.

Wagnis für den neuen Festivalkurator

Ricardo Carmona, der neue Kurator von Tanz im August, ist mit der Einladung dieses Stückes von Marco da Silva Ferreira zur Eröffnung des Tanzfestes ein Wagnis eingegangen und die Betonung des Politischen und Zeitgenössischen im Eröffnungsstück ist auch als programmatische Setzung zu verstehen. Ein streitbares Stück, nicht restlos überzeugend, dass allerdings das Publikum zu einem Jubelsturm hingerissen hat.

Sendung: rbb24 Inforadio, 10.08.23, 7.55 Uhr

Beitrag von Frank Schmid

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