Konzertkritik | Tocotronic
Die Band Tocotronic macht seit 30 Jahren Musik zwischen Indie-Rock und Pop. Mittlerweile gibt es 13 Alben, getextet von Leadsänger Dirk von Lowtzow. Beim Brandenburger Kultursommer haben sie Station gemacht. Corinne Orlowski war dabei.
15 Minuten bevor es los geht, lugen Sänger Dirk von Lowtzow und Gitarrist Rick McPhail noch neugierig ins Publikum. Voll ist es ja nicht gerade, hat ja auch wieder heftig gewittert. Viele Bäume sind vom letzten Unwetter vor zwei Wochen noch ganz zerzaust. Aber ein paar hundert Brandenburger haben sich doch aus ihren Löchern getraut und sind auf ihren sagenhaften Marienberg gestiegen, einem Weinberg mit kleinem Amphitheater.
Es riecht nach Pommes und Zigarillo. Die Bühne ist aber auch halb leer, die Instrumente stehen dicht beieinander. Sitzen da kleine Kuscheltiere? Eine Möwe, ein Fuchs, das Krümelmonster. Hi Freaks. Man kann gar nicht alle identifizieren, da stürmt schon Tocotronic pünktlich die Bühne. Von Lowtzow reckt die geballte Faust in die Luft – Pommesgabel – Peace-Zeichen.
Jackett aus- oder lieber wieder anziehen? Nee, doch ganz schön frisch. Gitarrist McPhail trägt eine Bommelmütze. "Sagen wir mal so", begrüßt von Lowtzow die Menge, "es ist von der Wetterstimmung her gemischt." Huch, hat er einen im Tee? Na ja, ist tatsächlich ganz schön kühl. Da hilft nur Warmtanzen. Und schon geht sie los, die wilde Fahrt durch 30 Jahre Bandgeschichte.
Tocotronic gehört zur Ursuppe der deutschsprachigen Indie-Rock-Musik der Hamburger Schule. Jetzt sind die Haare grau, aber prophetisch-visionär sind sie geblieben. Am Anfang war ihr Credo: "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein". Und weil Tocotronic nicht wie angekündigt die neue Platte "Nie wieder Krieg" spielt, sondern die ganz alten Songs mit ordentlich Gitarrenschrabbel, fühlt man sich tatsächlich noch mal wie 15: frech und wütend – und ja auch ein wenig verwirrt.
So verrätselt sind die Texte, so abstrakt und dissonant ist die Musik, die man gern Diskursrock nennt, die aber auch immer selbstironisch und politisch ist. Deswegen wurde sie hier damals von vielen Jugendlichen so verehrt, in den späten Baseballschlägerjahren in Brandenburg, die auch geprägt waren von rechter Gewalt.
Da können die Brandenburger auch heute noch emotional anknüpfen. Textsicher sind die wenigsten, aber die Parolen kann man mitbrüllen. Allesamt Verse, die man auf T-Shirts drucken könnte. Faust und Pommesgabel in die Luft gestreckt, der Kopf nickt im Takt. Gepogt wird auch bald, ja, auch die Fünfzigjährigen in weißem Hemd. Geht fast noch wie früher.
Von Lowtzows Blick geht immer wieder in den Himmel zu den angestrahlten Bäumen. Tolle Kulisse. Nur ganz schön laut ist's. Man hört von Lowtzows Stimme kaum. Die ist viel grimmiger als früher. Geschenkt. Denn was für ein Paradox: Dann, wenn es am lautesten ist, richtig dröhnt, ist das Konzert am berührendsten.
Die Mundwinkel alle oben, viele Augen geschlossen, es wird geknutscht. Und das passt zu Tocotronic, denen es immer um Widersprüchlichkeiten ging, um innere Zerrissenheit, seelische Kipppunkte. Das feiern die Brandenburger und fordern drei Zugaben. Dirk von Lowtzow genießt es, kniet sich runter, seine Hände formen ein Herz. Am Ende sind alle happy – diese jugendlich gebliebenen Freaks.
Der vierte Brandenburger Kultursommer findet noch bis zum 17. September auf dem Marienberg und an der Regattastrecke am Beetzsee statt, mit Open-Air-Konzerten der Brandenburger Symphoniker, einer Schlagernacht, Musicalshow und Operngala.
https://brandenburgertheater.de/kultursommer.html
Sendung: rbb24 Inforadio, 1.9.2023, 9 Uhr
Beitrag von Corinne Orlowski
Artikel im mobilen Angebot lesen