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Audio: rbb24 Inforadio | 11.09.2023 | Corinne Orlowski | Quelle: dpa/Annette Riedl

Berliner Ensemble ausverkauft

Salman Rushdie spricht nach Attentat erstmals öffentlich in Deutschland

Vergangenes Jahr wurde der Schriftsteller Salman Rushdie auf offener Bühne von einem Attentäter lebensgefährlich verletzt. Nun hat er sich in Berlin zum ersten Mal wieder der deutschen Öffentlichkeit gezeigt, per Video-Schalte. Von Corinne Orlowski

Schriftstellerkollege Daniel Kehlmann begrüßt seinen Freund Salman Rushdie. Er und der Übersetzer Bernhard Robben sitzen auf Klappstühlen auf der Bühne des Berliner Ensembles. Rushdie ist per Zoom zugeschaltet und die Leinwand zum Publikum gerichtet. Es gehe ihm gut, so Rushdie, nachdem er langen Beifall erhielt. Aber es gibt eine Ausnahme: sein rechtes Auge. Der Rest "funktioniert." Auch der verletzten Hand (übrigens der linken, nicht seiner Schreibhand) gehe es besser.

Rushdie trägt ein schwarz getöntes Brillenglas über dem eingebüßten Auge. Er ist dünner geworden, auf seinen Wangen sind ein paar rote Äderchen zu sehen. Sonst wirkt er eigentlich wie immer, mit dem markanten Bart um den Mund und der Halbglatze. Hinter ihm ist eine große Bibliothek zu erkennen, drei Wände voller Bücher.

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Es grenzt an ein Wunder, dass Rushdie überlebt hat

Kehlmann und Robben berichten eindringlich, wie sie die Nachricht des Attentats im Bundesstaat New York vor einem Jahr, am 12. August 2022, aufgenommen haben. Ungläubig und verblüfft seien sie gewesen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass die Vergangenheit sie alle einhole.

Der 76-jährige Rushdie zeigt sich seit dem Messerangriff äußerst selten. Es grenzt an ein Wunder, dass er die 15 Stiche überlebt hat. Kehlmann erzählt, dass selbst die Ärzte nicht daran geglaubt haben. Er habe ihn zweieinhalb Monate später in New York besucht. "Es war alles sehr geheim", berichtet Kehlmann. "Es gab eine geheime Adresse. Es gab ein geheimes Wort, das man sagen musste am Eingang des Hauses, um weiter gelassen zu werden. Und ich hatte meinen Sohn, der dabei war, auch darauf vorbereitet, dass wir vielleicht einen entstellten, bettlägerigen Menschen vorfinden würden und nichts davon war der Fall. Es war einer der bewegendsten Momente, die ich je erlebt habe, weil ich auch große Angst hatte vor der Begegnung natürlich."

Der Autor Daniel Kehlmann beim ilb im Berliner Ensemble. | Quelle: dpa/Annette Riedl

Rushdie wirkt entspannt

Im ausverkauften Berliner Ensemble spürt man die Sensation, Rushdie sehen zu dürfen. Ein wenig ungläubig starren alle auf die grobkörnige Leinwand. Und Rushdie wirkt entspannt, lächelt. Kehlmann und Robben stellen ihm abwechselnd Fragen zu seinem neuesten Buch "Victory City", das im April auf Deutsch erschienen ist, sein 15. Roman. Ein historisches, wort- und bildreiches Märchen, eine matriarchale Utopie, die vom Aufstieg und Fall einer wundersamen Stadt im 14. Jahrhundert erzählt.

Damit kehrt Rushdie in das Land seiner Geburt, Indien, zurück. Für Bernhard Robben ist Rushdie ein Sprachmaximalist. Wenn man etwas mit vielen Worten sagen kann, sagt er es mit vielen Worten, das stellt ihn manchmal vor übersetzerische Probleme. Das neue Skript las er ungläubig. "Ich muss gestehen“, so Robben, "als ich am Anfang las, der König heißt Hukka und sein Bruder heißt Bukka und er hat Brüder, die Chukka usw., da habe ich gedacht, hier spricht der Märchenonkel. Das hat mit Wirklichkeit rein gar nichts zu tun." Robben erinnert sich aber an ein Interview, das Salman Rushdie zu seinem Buch "Die bezaubernde Florentinerin" gegeben hat: "The weirdest stuff is mostly true, the true stuff is mostly invented." Die absurdesten Dinge sind meist wahr und die wahren erfunden.

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"Ich habe damit gespielt, Homer zu sein"

Das Reich von Hukka und Bukka hat es tatsächlich gegeben. Nur gibt es große Lücken in der Überlieferung. Rushdie, gelernter Historiker, erzählt seine Geschichte über 250 Jahre und hatte sichtlich Spaß beim Erfinden. "Ich habe etwas Frevelhaftes getan", erzählt Rushdie. "Ich habe versucht, einen neuen Mythos zu schreiben." Indien habe seine großen Sagen, da brauche es eigentlich keine weitere, aber er hatte Lust, eine zu erfinden. "Wenn Sie so wollen, habe ich ein bisschen damit gespielt, Homer zu sein. Ich war ein bisschen frech, aber genau das hat Spaß gemacht". Deswegen sei es auch so ein spielerisches Buch geworden, so der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels.

Schriftsteller haben das letzte Wort

Der Roman "Victory City" endet mit dem Satz: "Worte sind die einzigen Sieger". Und auch wenn Schriftsteller keine Armee hätten, keine Macht, so sagt Rushdie, sie hätten das letzte Wort, an das werde man sich später erinnern. "Könige und Königinnen sterben, aber sie werden nur erinnert durch die Geschichten, die über sie erzählt werden. In dem Fall lacht der Geschichtenerzähler als letzter." Beispielsweise habe sich der russische Schriftsteller Tolstoi mit "Krieg und Frieden" untersterblich gemacht. "Wenn man an Napoleon Bonapartes Russlandfeldzug denkt, denken wir an Krieg und Frieden. Er hat sich gewissermaßen diese Geschichte zu eigen gemacht."

Kurzweilig und nahbar, aber keine Neuigkeiten

Bloß schade, dass man über den aktuellen Roman hinaus, nichts Neues erfährt. Rushdie hatte schließlich vor kurzem erwähnt, an einem Buch über das Attentat zu schreiben. Und der BBC offenbarte er, nicht zu wissen, ob er jemals wieder bei einer öffentlichen Veranstaltung auftreten werde. Ob er also im Oktober nach Frankfurt kommt, wo ihm am 22. Oktober der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen werden soll, bleibt offen. Aber man rechne mit ihm, so der Börsenverein.

Und trotzdem kam man Rushdie bei diesem kurzweiligen, munteren Gespräch näher, eben weil Kehlmann und Robben so vertraut mit ihm sind. So konnten sie ihm entlocken, dass er seine lebenslange Liebe zu Comics nie aufgegeben hat und dass das "Dschungelbuch" in sein Lieblingskapitel von "Victory City" eingeflossen ist. Rushdie scheint tatsächlich wieder ganz der Alte zu sein, mit seinem Humor und einer jugendlichen Neugier, weswegen man erfüllt und fasziniert von der Unbeugsamkeit dieses Autors gar nicht den Saal verlassen möchte.

Sendung: rbb24 Inforadio, 11.09.2023, 6:55 Uhr

Beitrag von Corinne Orlowski

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