Studierende aus Nahost
Die Barenboim-Said-Akademie in Berlin bringt junge Musiker:innen aus Palästina, Israel, Syrien oder dem Libanon und Ägypten zusammen. Gemeinsam studieren sie hier Musik. Der Angriff auf Israel stellt das studentische Zusammenleben vor große Herausforderungen. Von Maria Ossowski
Das Semester beginnt in der kommenden Woche, am 17. Oktober. Es ist die größte Bewährungsprobe der Barenboim-Said-Akademie in der Französischen Straße. Von den knapp 80 Studenten kommen 70 Prozent aus dem Nahen Osten. An der Akademie studieren Israelis, Palästinenser, Syrer, Ägypter, Libanesen und andere, und zwar nicht nur Musik, sondern auch Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaften.
Nach den Massakern der Hamas hat die "Student Union" am Montag zu einer Versammlung aufgerufen. Die Mehrheit der Student:innen ist gekommen. Die Direktorin Regula Rapp hat die Student:innen zusammen mit dem Dekan Michael Barenboim begrüßt. Die Student:innen haben die Veranstaltung moderiert, in der es nur ein Thema gab: den Angriff der Hamas und die Folgen.
"Wir werden diese Versammlungen fortführen, vielleicht sogar mehrmals die Woche, und selbstverständlich gehen wir auch in Einzelgespräche. Unsere Tür ist offen, das wissen unsere Studierenden", so Regula Rapp. "Hierher kommen diejenigen, deren Familie und Freunde täglich betroffen sind und die unendliche Angst haben vor dem, was ist und kommen wird. Wir sind die Institution, in der sie sich hier treffen können und in der sie einen Raum haben, in dem sie sich auseinandersetzen können, in dem sie ihre Gefühle äußern können. Ich würde sagen, im Moment werden wir ganz besonders gebraucht."
Michael Barenboim ist der Dekan der Akademie, die sein Vater, der Dirigent Daniel Barenboim, zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Edward Said gegründet hatte. Die Werte der Akademie: Humanität, Gleichheit, Rücksicht aufeinander nehmen. Die Studierenden sollen hier die Konflikte der Heimat nicht vergessen, aber sie überbrücken.
"Es sind ganz besondere Menschen", so Michael Barenboim. "Sie sind nämlich unendlich solidarisch miteinander, sie hören einander zu, sie reden miteinander und sind unterstützend füreinander da. Und ich glaube, sie sind das beste Beispiel dafür, dass das möglich ist, dass wir eine Alternative anbieten können, zu dem was wir in den Nachrichten sehen. Und ein besseres Zeichen als das Musikmachen zusammen in einem Streichquartett oder einem Orchester gibt es nicht. Wenn sie zusammenspielen, zeigen sie, dass es anders geht."
Aber ist das nicht angesichts der Tausenden von Toten ein Traum, eine Utopie, nur mehr ein Wunsch? Nein, meint Barenboim: "Was wir hier machen, ist keine Träumerei. Sie spielen ja wirklich. Am Montag in einer Woche erlebt das Publikum im Pierre-Boulez-Saal in Berlin ein Orchester, zusammengesetzt aus Musikern aus dem Nahen Osten - aus Israel, aus Palästina, aus dem Iran, Ägypten und Libanon. Sie spielen ein sinfonisches Programm. Das ist Realität."
Die Musik als allheilende Kraft? Sicher nicht. Psycholog:innen und Mediatoren sollen in hoher Frequenz die Studierenden betreuen, denn die Konflikte verschwinden nicht, auch wenn man miteinander Mozart spielt. Regula Rapp will keine Konflikte unter den Teppich kehren oder zukleistern: "Natürlich gibt es Animositäten. Und ich habe auch Studierende gehört, die sagen, ich kann heute mit gar niemanden sprechen, erst recht nicht mit jemanden aus einem anderen Land. Das ist richtig. Aber dann ist es unsere Aufgabe, zu sagen, du machst jetzt das, wonach du dich fühlst. Wir müssen sie in dieser schwersten Krise unterstützen. Das ist nicht leicht. Trotzdem ist das die Utopie, an der wir festhalten. Das die im Moment schwer zu erreichen ist, mit noch mehr Unterstützung und verstärktem Verständnis für die einzelnen Schicksale, das ist keine Frage. Also wir haben gerade keine Nine-to-five-Jobs."
Zwei israelische Studierende erklärten ihr Montag, sie könnten momentan einfach nicht üben. Rapp empfahl ihnen, stattdessen schlicht zu spielen.
Michael Barenboim, ein verbindlicher und liebenswürdiger Gesprächspartner, gibt jedoch zu: "Die Sorge ist groß, dass es für uns alle eine noch schwierigere Gefühlslage geben wird als jetzt schon". Und dennoch: sie spielen. Sie geben Konzerte. "Je schlimmer die Situation wird, desto wichtiger ist es doch, dass wir spielen, dass wir uns zeigen und zeigen, dass es anders geht."
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.10.2023, 11:55 Uhr
Beitrag von Maria Ossowski
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