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Audio: rbbKultur | 16.11.2023 | Natascha Freundel | Quelle: privat

Israelin über verschleppte Angehörige

"Leben haben keinen Preis"

Die israelisch-deutsche Filmstudentin Shira Havron hat durch das Massaker der Hamas am 7. Oktober vier Angehörige verloren. Sieben weitere wurden wahrscheinlich nach Gaza verschleppt. Im Interview erzählt sie von dem Verlust und der Ungewissheit.

rbb|24: Frau Havron, wer sind die Angehörigen, die Ihnen fehlen?

Shira Havron: Das Haus meiner Tante Lilach wurde komplett zerstört, mit den Menschen darin. Lilach war Sozialarbeiterin für Kinder mit posttraumatischer Belastungsstörung. Auch ihr Mann Eviatar, sein philippinischer Pfleger Paul und ein anderer Onkel wurden ermordet.

Meine Tante Shoshan wurde entführt, sie hatte eine NGO namens “For a Planet”. Es war ihre Lebensaufgabe, das Hungerproblem in der Welt zu lösen. Dann haben wir ihre Tochter Adi, Psychologin, ausgebildet in Achtsamkeit. Auch ihr Ehemann Tal und ihre Kinder wurden verschleppt. Naveh ist acht und liebt Origami. Yahel ist drei Jahre alt und lernte gerade schwimmen.

Die beiden anderen Entführten sind Sharon, die Schwester meines Onkels von der anderen Familienseite. Sie arbeitet mit autistischen Kindern. Und ihre Tochter Noam, sie ist zwölf.

Zur Person

Shira Havron

Woher nehmen Sie die Kraft für Ihre Gespräche mit Politikern und Journalisten?

Wir nennen unsere Familie einen Stamm. Es sind sehr geeinte, starke Leute. Mir war sofort klar, dass ich alles tun muss, um meine Angehörigen zurückzubringen. Ich habe mich darauf eingestellt, hart und viel zu arbeiten und nicht zu viel nachzudenken. Meine Familie ist eine große Kraftquelle für mich. Mein Ich ist zur Seite gerückt, ich bin jetzt nur noch ein Bote.

Am 7. Oktober waren Sie nicht in Israel, sondern auf Reisen in London. Sie sind dann von London direkt nach Brüssel geflogen, um sich mit Vertretern des Europäischen Parlaments zu treffen. Warum Brüssel?

Brüssel war das erste Ziel, weil uns geraten wurde, mit Leuten aus der EU zu sprechen, die für Menschenrechte zuständig sind. Die Geiselfrage hängt vom Druck vieler Länder ab. Wir haben uns mit Charles Michel getroffen, dem Ratspräsidenten der EU. Wir dachten, wir fangen ganz oben an. Aber klar, wir sind keine Geopolitiker, ich bin nur Zivilistin und Filmstudentin.

Der Kibbuz Be’eri wurde von Ihrem Großvater Avraham und seiner Frau Rina gegründet, nachdem er vor den Nazis aus seinem Geburtsland Deutschland fliehen musste. Was ist dieser Kibbuz für ein Ort?

Meine Oma ist vor zwei Jahren verstorben, mein Opa vergangenes Jahr. Zum Glück mussten sie nicht miterleben, was passiert ist.

Der Kibbuz war der Himmel auf Erden. Mit einer engen, nicht besonders großen Gemeinschaft, nur 1.200 Menschen. Ein glücklicher, blühender Ort: Alles ist grün, die Leute gehen barfuß und grüßen einander, unterhalten sich, beteiligten sich an allen kommunalen Pflichten und Feiern. Es war einer der letzten Gemeinschaftskibbutzim. Be’eri hat eine erfolgreiche Druckerei, die alle versorgte. Ein inspirierender Ort, vor allem für Kinder. Man möchte für immer dort bleiben.

Viele Menschen aus den Kibbuzim im Süden Israels waren Friedensaktivisten. Einige haben zum Beispiel kranke Kinder aus dem Gazastreifen mit ihren Privatautos in israelische Krankenhäuser gebracht. Würden Sie das auch heute tun?

In Be’eri wurde Geld gesammelt, um es an die Menschen aus dem Gaza-Streifen zu überweisen, die im Kibbuz gearbeitet haben und es dann nicht mehr durften. Alle meine Verwandten sind Friedensaktivisten. Wir haben jede Woche demonstriert, wir haben palästinensische Freunde und so weiter.

Viele sind überrascht, dass wir an dieser Idee festhalten. Wenn man erlebt hat, was meine Familie an diesem Tag erlebt hat, kann man gar nicht anders. Wenn wir immer nur kämpfen, werden wir in Zukunft noch mehr solcher Fälle haben, hier in Israel, aber auch bei den Palästinensern. Nach so viel Leid ist dir das Leid der anderen nicht fremd. Man hört von den Familien in Gaza, und es bricht einem das Herz, weil man genau weiß, wie sie sich fühlen. Diese Überzeugung ist stärker denn je.

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Der zweite Gedanke: Gespräch mit Shira Havron

Andere Israelis reagieren mit Wut. Sie fordern militärische Gewalt, um die Hamas auszulöschen.

Es ist wichtig, zwischen Hamas und der palästinensischen Zivilbevölkerung zu unterscheiden. Die Hamas auszulöschen, das sollte bedeuten, diese Terrororganisation zu beseitigen, die gerade meine Familie getötet, zerstört und entführt hat. Dafür sollte kein Zivilist verletzt werden.

Das Töten von Zivilisten ist an jedem Ort der Welt falsch und schrecklich. Viele Israelis rufen nach Vergeltung. Sie sind wütend, verletzt, traurig, und sie lenken ihre Wut auf andere Menschen. Ich glaube, das ist nicht richtig.

Ja, wir sind im Krieg. Wir wurden brutal angegriffen. Israel hat das Recht, sein Volk zu verteidigen. Aber wenn dabei Zivilisten verletzt werden, kritisiere ich das. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Hamas Menschen als Schutzschilde benutzt. Sie benutzt das palästinensische Volk in Gaza und jetzt auch meine Familie. Die Gewalt schmerzt. Ich wünschte, der Krieg würde enden. Aber die Lösung ist kompliziert. Mir geht es vor allem darum, meine Familie zurückzubekommen, und dann sehen wir, was die Verantwortlichen am besten tun können.

Wenn Sie mit Premierminister Benjamin Netanjahu sprechen könnten, was würden Sie ihm sagen?

Meine Familie hatte die Gelegenheit, ihn und Sara Netanjahu zu treffen. Mein Verwandter hat unsere Botschaft übermittelt. Ich würde das Gleiche sagen: Sie sind verantwortlich. Sie müssen unsere Leute jetzt nach Hause holen. Man lässt niemanden zurück. Wir vertrauen darauf, dass Sie es schaffen. Alles andere ist unwichtig. Es gibt keinen Sieg, keine Sicherheit, keine Routine, keine Logik in dieser Welt, bis die Babys, die Alten, die Frauen, die jungen Männer, alle nach Hause kommen. Das muss ihr erster und ihr letzter Gedanke an jedem Tag sein. Es geht um die Rettung von Menschenleben, die man noch retten kann, nachdem schon so viele gestorben sind.

In Israel marschieren gerade Hunderte Angehörige und Freunde der Geiseln bis nach Jerusalem, bis zum Büro von Netanjahu. Was denken Sie über die wachsenden Proteste?

Es ist das Wichtigste, was jeder im Moment tun machen kann. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist sehr komplex. Wenn jemand verwirrt ist oder nicht weiß, was jetzt wichtig ist: Wir sprechen von Menschenrechten, von einer humanitären Krise. Zivilisten im Gaza-Streifen haben nichts mit Politik zu tun.

Menschen in dieser Situation, auch ich, können sich sehr hilflos fühlen, weil ihr Schicksal in den Händen hochrangiger Leute liegt. Ich glaube aber, wir haben Einfluss, wir können etwas tun. Genau das, was ich tue. Darüber reden, die Fotos teilen, diese unglaublichen Situationen, die Familien wie meine erleben. Man kann einem Freund davon erzählen, tweeten, zu dem richtigen Protest gehen und uns helfen, unserer Stimme Gehör zu verschaffen.

Was halten Sie von der Forderung eines "All in all"-Deals, also der Forderung, dass alle Geiseln gegen alle palästinensischen Gefangenen in israelischer Haft ausgetauscht werden?

Leben haben keinen Preis. Alles sollte getan werden, um sie jetzt nach Hause zu bringen. Ich weiß nicht, ob im Moment so ein Deal verhandelt wird. Aber ich denke, alles sollte getan werden, Punkt.

Sie haben an der zentralen Gedenkfeier zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in Berlin teilgenommen. Wie war das für Sie?

Es war eine starke Erfahrung. Wir sehen die Bilder vom Holocaust jedes Jahr in der Schule, an der Uni und im Fernsehen. Dieses Jahr habe ich mir dort einen kleinen angesehen und dachte: Wow, diese zerstörten Häuser oder die Menschen, die jüdische Geschäfte mit einem Davidstern markieren, dann kommt mir alles schrecklich bekannt vor. Das hat mich sehr bewegt und beängstigt.

Ich hatte nie Angst um meine Stellung in der Welt, auch nicht als israelische Jüdin. Als Linke, als Frau, die, soviel sie kann für die Rechte der palästinensischen Mitbürger und für Minderheiten insgesamt kämpft, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Zielscheibe oder Opfer von so etwas sein würde. Während der Zeremonie dachte ich: ich kann nicht glauben, dass ich in dieser Lage bin und wie vertraut mir diese Bilder sind.

Hierzulande sagen viele, dass Deutschland Israel keine Ratschläge geben könne, weil von hier die Shoah ausging. Was denken Sie darüber?

Für gute Kritik ist immer Platz. Also für konstruktive, nicht zerstörerische Kritik. Kein Mensch sollte Israel unterstützen, weil er sich schuldig fühlt. Man sollte Israels Selbstverteidigung unterstützen oder alles, was möglich ist, um die Geiseln zurückzubringen, weil man an Menschenrechte glaubt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Natascha Freundel. Im rbb-Podcast “Der Zweite Gedanke” finden Sie das gesamte Gespräch mit Shira Havron - auch in der englischen Originalversion.

Sendung: rbbKultur, 16.11.2023, 19:00 Uhr

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