"1984" im Berliner Ensemble
George Orwells "1984" wirkt heute so aktuell wie bei seinem Erscheinungsdatum 1949. Am Berliner Ensemble hat Luc Perceval den diktatorischen Überwachungsstaat jetzt als Kopfgeburt eines Verschwörungstheoretikers inszeniert – mit gemischtem Ergebnis. Von Barbara Behrendt
Als Donald Trump Präsident war, stieg George Orwells "1984" auf Platz Eins der Verkaufsschlager bei Amazon. Heute, ein paar Jahre später, denkt man bei Orwells dystopischem Roman womöglich an die russische Propaganda-Lüge vom "Befreiungskrieg" in der Ukraine. Die Geschichte vom diktatorischen Überwachungsstaat mit "alternativen Fakten" scheint unserer Realität immer dicht auf den Versen – oder sogar einen Schritt voraus.
Die Bühne im Berliner Ensemble allerdings verklärt Realität und Hirngespinst so gut sie kann. Zwei Spiegelwände stehen sich hier schräg gegenüber. Davor sitzt nicht etwa nur eine Hauptfigur mit Namen Winston, sondern gleich vier Lookalikes hängen hier (im wahrsten Sinne) herum. Blasse Typen in grauen Anzügen sind das, mit schwarzem Brillengestell auf der Nase. Einer steht vornübergebeugt wie ein Klappmesser, ein anderer sitzt mit hängendem Kopf auf dem Boden, ein dritter scheint im Spiegel die Wahrheit zu suchen. Doch dort vervielfältigen sich die Anzugträger nur bis in die Unendlichkeit.
Von einem Teleprompter im Zuschauerraum lesen sie ihre Worte wie eine Partitur ab. Und schnell wird klar: Diese vier Stimmen befinden sich in Winstons Kopf. Weil er sich in Gedanken dem "Großen Bruder" und der Partei widersetzt hat, glaubt sich Winston in höchster Gefahr. Doch von der Außenwelt wird nichts sichtbar – alles, was in Orwells Roman so hellsichtig wirkt: die Überwachung durch digitale Medien, die Fake News, die Propaganda, die Wirklichkeit konstruiert – all das trägt sich im Kopf der paranoiden Männer zu oder übersteigert sich dort ins Vielfache.
Mit einer gewissen Ironie erzählen Veit Schubert, Oliver Kraushaar, Paul Herwig und Gerrit Jansen daher von der ersten Begegnung mit Julia, in deren Aufmerksamkeit Winston nichts als das verdächtige Verhalten einer Spionin vermuten kann. Als sie ihm einen Zettel mit der Botschaft "Ich liebe dich" in die Hand drückt, ist Winston allerdings nicht weniger überfordert. Julia ist bei Pauline Knof das Gegenstück zu Winston. Sie möchte nicht das System bekämpfen, sondern leben: "In meinen Augen ist das Leben ziemlich einfach: Man will Spaß haben und die Partei will einen daran hindern." Ihr zur Seite stehen ebenfalls drei Lookalikes: drei Frauen, die mit wunderschönen Oberton-Gesängen dem Hass Poesie und Liebe entgegensetzen.
Pervecal macht also, was mit Orwells Roman vermutlich noch nie getan worden ist: Er lässt die Gesellschaftskritik links liegen und stellt die Frage, nach welchen Prinzipien der Mensch seine Realität formt: nach denen der Angst und des Hasses – oder nach denen des Vertrauens und der Liebe. Letztlich verkehrt Perceval die Vorlage ins Gegenteil: Nicht die Diktatur ist hier gefährlich, sondern der Mensch, der meint, er befände sich in einer. Winston, ein Verschwörungstheoretiker.
Wie präzise die Männer miteinander sprechen, sich musikalisch ins Wort fallen und kleine Choreografien formen, ist kunstvoll. Doch Percevals Lesart kommt an ihre Grenzen, als Julia und Winston festgenommen werden. Wenn auch der Folterknecht nur eine Metapher ist, wodurch werden die Figuren dann gebrochen?
Wirklich schlüssig wirkt diese 180-Grad-Wendung der Vorlage also nicht. Die große Erschütterung von Orwells Dystopie bleibt aus. Dafür endet Perceval mit Menschenfreundlichkeit: Julia und Winston bleiben am Leben. Vielleicht können sie sich ihren Verrat sogar verzeihen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 19.11.2023, 15 Uhr
Beitrag von Barbara Behrendt
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