Frühkritik | Uraufführung von "Bucket List"
Bekannt wurde die Regisseurin Yael Ronen 2008 an der Schaubühne. Damals brachte sie Israelis, Palästinenser und Deutsche der dritten Generation nach dem Holocaust zusammen. Jetzt kehrt sie zurück – mit der ersten künstlerischen Antwort auf den 7.Oktober. Von Barbara Behrendt
Dass die bittere Realität an den Türen der Berliner Schaubühne nicht Halt macht, zeigt sich am Security-Aufgebot und den Einlassbestimmungen: Keine Taschen und keine Rucksäcke dürfen mit in den Saal gebracht werden, wenn die Premiere einer jüdischen, israelischen Regisseurin und eines ebensolchen Komponisten läuft.
Der Einbruch der Realität zeigt sich aber auch am Ende dieses Abends, der zu Recht mit Standing Ovations gefeiert wird. Der Komponist Shlomi Shaban gibt am Klavier mit dem ganzen Team eine herzergreifende Zugabe, die es nicht in die Inszenierung geschafft hat. Das Lied heißt: "Bucket List". Von der Idee der "Bucket List", den Dingen also, die man im Leben getan haben muss, ist allerdings nur noch der Titel des Musicals geblieben.
Die Proben starteten nach dem 7. Oktober – und alle Pläne, so scheint es, fielen wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Diese Inszenierung, man spürt es sofort, ist aus den Trümmern gebaut, in die der 7. Oktober, ein Samstag, die Realität zerlegt hat. Damien Rebgetz spricht es zu Beginn aus: "On Saturday morning I woke up under the ruins of my former reality. And although everything felt familiar it was clear that everything had changed, beyond all recognition." Am Samstagmorgen, sagt er, fand er sich unter den Ruinen seiner Realität wieder. Nichts war wiederzuerkennen.
Schon die ersten Bilder sind ein Verweis auf den Krieg und seine Opfer. Auf die rabenschwarze Bühne segeln schneeweiße Stoffe herab – Babystrampler, Mädchenkleider, Hochzeitsschleier. Die Schauspieler:innen, ganz in Schwarz, tragen sie wie Leichen in ihren Armen. Derweil stimmt Ruth Rosenfeld ein mehrdeutiges, elegisches Lied vom Kriegsspiel an.
Einen derart getragenen Ton hat man bei Shlomi Shaban und der Regisseurin Yael Ronen noch nie gehört. Bislang waren ihre gemeinsamen Arbeiten kluge, unterhaltsame, spritzige Debatten-Musicals ("Slippery Slope"). Dabei enthalten sich die beiden jedes konkreten Kommentars zum Nahost-Konflikt. Sondern erfinden stattdessen eine symbolische Science-Fiction-Geschichte, die an den Hollywood-Film "Vergiss mein nicht" mit Kate Winslet und Jim Carey denken lässt: Die Firma "Zeitgeist" hat eine Methode gefunden, um die Menschen von ihren Traumata zu befreien: Sie löscht die Erinnerungen, kollektive und individuelle. Gegenwart für immer. Und da spielt das Musical dann herrlich ironisch auf: So viele Kriege und Traumata gibt es auf der Welt, eine wahre Goldgrube!
Aber "Zeitgeist" steht natürlich nicht nur für eine Firma, sondern für die Zeit, in der wir leben. Und in der, so singen die vier Performer:innen, gibt es kein Dazwischen. Nur rechts und links. Das ist Ronens Gesellschaftskritik.
Doch gezeigt wird keine bissige Gesellschaftssatire, sondern ein Abend über Trauer und Erinnerung. Nebenwirkung der Traumata-Löschung ist nämlich das unkontrollierte Herumschwirren von Erinnerungssplittern. Moritz Gottwald und Carolin Haupt singen sich durch ihr Leben als Paar, von der Hochzeit übers Fremdgehen bis zum Erinnerungsberg, der ihm nach ihrem Tod bleibt. Zuletzt gibt Damien Rebgetz das Lied über die Vorstellungskraft, die niemand löschen kann: Was wäre gewesen wenn?
Wie handwerklich perfekt die Songs in der Bandbreite von Jazz, Tango, Rock und Pop-Balladen arrangiert sind, wie genial das Ensemble singt und mit der dreiköpfigen Band zusammenklingt – das ist ein Ereignis.
Man könnte meckern, dass die Science-Fiction-Geschichte nicht recht trägt, dass manche Bilder allzu kitschig wirken. Aber das tritt zurück angesichts der so ehrlichen Ratlosigkeit von Shaban und Ronen beim Blick auf die Welt nach dem 7. Oktober.
Diese Ratlosigkeit, die Trauer, die Erinnerung an die Toten, auf allen Seiten – all das verbindet die Menschen auf der Bühne mit den Menschen im Publikum. Dem Schweigen in der Kulturszene nach dem 7. Oktober setzt dieser Abend die Kraft und den Trost der Kunst entgegen. In der Gemeinschaft des Theaters. Das berührt ungemein. Da können einem auch die Tränen kommen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.12.2023, 6 Uhr
Beitrag von Barbara Behrendt
Artikel im mobilen Angebot lesen