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Audio: rbb24 Inforadio | 13.12.2023 | Valentin Brückner | Quelle: rbb/M.Wenzel

Konzertkritik | "Sidos Weihnachtsshow"

Sido mischt Hip-Hop mit "Ho, ho, ho" - und fertig ist der Kult

Hymnen, Geschenke, Überraschungsgäste: Sidos Weihnachtskonzerte in Berlin waren bisher stets ausverkauft. Die erste der diesjährigen zehn Shows zeigt, mit welch simplen und hochkommerziellen Rezept der Rapper einen Fankult aufgebaut hat. Von Marvin Wenzel

Auf der mit einem Weihnachtsbaum, Adventssternen und roten Nikolaussocken geschmückten Bühne singt Paul am Dienstagabend in der Berliner Columbiahalle "O Tannenbaum". Aber nicht Paul Würdig - 43 Jahre alt, Deutschrap-Urgestein und bekannt als "Sido" - sondern ein junger Fan mit demselben Vornamen. Nach seiner Weihnachts-Trällerei mit zittriger Stimme bekommt der Elfjährige von Sido ein Geschenk in die Hand gedrückt: ein in blaues Geschenkpapier eingewickeltes Tablet. Diese Geste hat Tradition auf Sidos Weihnachtskonzerten.

In diesem Jahr lädt der Rapper an zehn Tagen am Stück zum Hip-Hop-Weihnachtsfest in die Columbiahalle ein. Draußen, an der Veranstaltungstafel, steht unter dem ikonischen blauen Neonschriftzug der Columbiahalle in dicken roten Buchstaben: "Sidos Weihnachtsshow – 10 x ausverkauft”. Sein erstes Adventskonzert spielte er 2018. Damals noch "nur" drei Mal in Folge, 2022 waren es schon acht Shows. In diesem Jahr sind es zehn.

Aber wie schafft es der Rapper, mit einem Weihnachtskonzert eine der größten Konzerthallen Berlins mit einer Kapazität von 3.500 Gästen voll zu machen? Und zwar zehn Mal am Stück?

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Das erste Drittel des Konzerts gehört seinen Fans seit Tag eins

In alter Tradition betritt der Rapper die Bühne mit der Frage “Wart ihr auch alle schön aggro?” und spielt seinen "Weihnachtssong". Ein Klassiker von seinem Debütalbum "Maske", mit dem er 2004 seinen Durchbruch hatte. Damals schaffte er es, zusammen mit seinem Hip-Hop-Label "Aggro Berlin", Gangstarap massentauglich zu machen. In dem Song rappt er darüber, in der Weihnachtszeit mit einer "Nase voller Schnee" bei reichen Leuten einzubrechen und in ihren Häusern Party zu machen. Anschließend spielt er "Fuffies im Club", ein weiterer Hit von seiner ersten Erfolgsplatte. Dann kommt "Schlechtes Vorbild". Das erste Drittel des Konzerts gehört seinen Fans seit Tag eins.

Weiter geht's mit etwas sanfteren Songs. Der "Himmel soll warten" lässt die Fans schunkeln. Der Song mit Ohrwurm-Melodie von Sänger Adil Tawil markiert Sidos stilvollen Übergang vom Straßenrap zum melodischen Hip-Hop mit musikalischem Anspruch. Damals präsentierte er den Song bei einem MTV-Auftritt unplugged live mit einer großen Band im Fernsehen. Wenige Jahre später ließ er sich auf die Welt des Hip-Hop-Pops ein. Radio-Hits mit einer Note Schlager, die kommerziell erfolgreich waren, aber mit Sidos Rap - in ursprünglicher Form - nicht mehr viel gemeinsam hatten. Stichwort: "Astronaut", featuring Andreas Bourani. "Ich heb ab / Nichts hält mich am Boden". Und so weiter. Bei der Show singen die Fans den Refrain leidenschaftlich mit.

Sido auf der Bühne bei seiner Weihnachtsshow. | Quelle: rbb/M.Wenzel

Kinder, Familien und Fans seit der ersten Stunde

Sidos Outfit ist genauso durchgemischt wie seine Diskografie: ein teures weißes Designer-Hemd, kombiniert mit weißer Jogginghose, die in Gucci-Socken reingesteckt ist. Durchmixt sind auch seine Fans: Die meisten sind schätzungsweise um die 35 Jahre alt und machen einen bürgerlichen Eindruck. Familien mit Kindern, die Weihnachtspullis, Rentier-Haarreifen und Sido-Shirts tragen. Aber auch die Gen Z ist vertreten. Einige jugendliche Fans kämpfen noch im mittleren Teil des Konzerts um die besten Plätze in der ersten Reihe.

Für alle der Fan-Sparten ist etwas dabei: von der Straßen-Härte des Maske-Albums bis zu poppigen Radio-Hits à la “Bilder im Kopf”. Zwischendrin geben sich auch noch ein paar Fans der ersten Stunde zu erkennen – die vermutlich in den vergangenen 20 Jahren wenig an ihrem Kleidungsstil geändert haben: New Era Cap, Baggy Jeans, XXL-Shirts. Zwischen den Songs zünden sie sich heimlich in der Armbeuge Joints an und versuchen, sie möglichst unauffällig zu rauchen. Insgesamt ist die Stimmung sehr harmonisch. Die Fans wippen zusammen im Takt und werfen ihre Hände in die Luft. Moshpits und Gerangel gibt es nicht.

Fans bei Sidos Weihnachtsshow in Merchandise-Bademänteln. | Quelle: rbb/M.Wenzel

"Wir haben gehört, dass das gut sein soll”, sagt Pascal Neuhäuser, 50, Glatze, breites Grinsen. Er ist für Sido mit seiner Frau anderthalb Stunden mit dem Auto aus Templin bis nach Berlin-Tempelhof angereist. “Ein Freund von uns ist letztes Jahr extra aus der Schweiz hierher gekommen.” Das habe er sich nicht entgehen lassen wollen.

Neuhäuser und seine Frau tragen im Partnerlook rote Weihnachtspullis. Dazu: ein blauer Bademantel, den ein weißes Muster aus dem Sido-Logo, Marijuana-Zeichen und Weihnachtssternen ziert. Er sagt: "Wir haben uns die Bademäntel gekauft, weil uns sonst zu kalt wird auf dem Weg zurück zum Auto." Den Bademantel hat er vor dem Konzert am Merchandise-Stand gekauft. Dort gibt es rund 20 adventliche Sido-Fanartikel zu kaufen. Pullis, Socken, besonders beliebt: Weihnachtskugeln. Rund um Sidos Shows hat sich ein großer - und durchaus kommerzieller - Fankult aufgebaut.

Viele der Fans sind schon mehrmals auf Sidos Weihnachtsshows gewesen. Als Sido fragt, wer schon mal dabei war, kreischt die halbe Halle. Ein Fan am rechten Rand des Stehbereichs sagt etwas frustriert zu seinem Kumpel: "Nächstes Jahr müssen wir es endlich mal schaffen, eine halbe Stunde vor Einlass da zu sein und dann gehen wir in die erste Reihe."

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Ein Fankult wie bei Roland Kaiser

Der Fankult erinnert an die Fan-Rituale rund um einen weiteren Berliner Musiker: den Schlagerstar Roland Kaiser. Auch bei seinen Konzerten wissen die Fans ganz genau, was sie erwartet, wenn sie zu einem der vielen Auftritte der "Kaiser-Mania" nach Dresden reisen: Hits und Wohlfühl-Stimmung. Nur: dass Kaisers Fans pink leuchtende Krönchen tragen und Schlager-Hymnen vor den Shows anstimmen. Und nicht wie im Fall von Sidos Fans: die Melodie von einem Song, der ausschließlich von den Erfahrungen eines jungen Rap-Machos mit Analverkehr handelt.

Auch bei Sido-Shows bekommen die Fans ein sorgfältig abgeschmecktes, aber nur wenig überraschendes Wohlfühl-Rundum-Paket: die Klassiker aus Sidos Karriere, Weihnachtssongs mit Kindern auf der Bühne und Geschenke. Nach einem Song sagt Sido: "Lasst uns das zu ‘ner Institution machen." Doch das sind seine Weihnachtsshows bereits: Shows für das nächste Jahr sind schon angekündigt.

Sido macht auf der Bühne mehr den Eindruck eines Entertainers als eines Rappers. Er macht Witze zwischen den Songs, ist von Halbwüchsigen umgeben, die als Wichtel verkleidet sind. Seine Bühne ist zudem wie die Studiokulisse einer weihnachtlichen Fernsehserie dekoriert. Trotzdem lässt er auch ab und zu seine "Gangster-Seite" durchschimmern. Nach einem Song zündet er sich einen Joint an und gibt damit an. Nach anderthalb Zügen gibt er ihn dann aber weiter an die Fans in der ersten Reihe. Vorsichtiger Genuss - so wie es erwachsene Rapper halt machen.

Die Weihnachtsshows haben eine gemütliche Atmosphäre, könnten richtige Hip-Hop-Fans aber enttäuschen. Nur selten passiert etwas Überraschendes. Wie zum Beispiel, wenn bekannte Gesichter aus der deutschen Rapszene für jeweils einen Song die Bühne betreten. Sidos Spezialgäste: ehemalige Weggefährten wie die Rapper Harris, Estikay und und PA Sports. Zum Großteil sind sie natürlich gekleidet in Sidos Weihnachtsklamotten.

“Gangster-Sido” trifft auf den erwachsenen Familienpapa-Sido

So wie bei jedem Sido Konzert kündigt der Rapper zum Schluss einen Song mit dem Anfangsbuchstaben A an - und spielt dann mit Erstaunen seiner Fans den Hit "Astronaut". Danach sagt er: "Habt im Dezember 'ne schöne Zeit mit eurer Familie und euren Liebsten. Seid nicht allein, man!" Ohne Übergang fordert er kurz danach seine männlichen Fans für den letzten Song dazu auf, ihre "Eier nochmal so richtig auf den Tisch zu legen". Der erwachsene Familienpapa-Sido von heute trifft in den letzten zehn Minuten nochmal auf den Aggro-Sido von früher. Der dann, in bewährter Tradition, als allerletztes den "Arschf***song" performt.

Das Konzert bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Nostalgie durch Hip-Hop-Klassiker und kitschigem Weihnachtskommerz. Aber die Fans lieben es - und singen ohne Ausnahme lautstark mit. Von jung bis alt. Das simple Konzept der Weihnachtsshows funktioniert. Die Karten für die sechs Shows im nächsten Dezember stehen schon im Vorverkauf. Mit demselben Namen wie in diesem Jahr: "Sidos Weihnachtsshow". Fankult eben.

Sendung: rbb24 Inforadio, 13.12.2023, 17 Uhr

Beitrag von Marvin Wenzel

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