Konzertkritik | The Vaccines
The Vaccines waren immer eine Indierock-Band der zweiten Reihe – am Montagabend haben sie ein ausverkauftes Konzert im Festsaal Kreuzberg gespielt. So viel Publikum hatten sie in Berlin noch nie – und waren von den Leuten sichtlich beeindruckt. Von Bruno Dietel
Weiße Nelken an den Mikrofonen, rosa Nelken auf den Verstärkern und dem Keyboard, hinter der Bühne ein heller, geraffter Vorhang: Edel sieht die Szenerie aus, die The Vaccines für ihre Berlin-Show im Festsaal Kreuzberg aufgebaut haben.
Edel, das wäre jetzt nicht unbedingt das erste Wort, was einem zum herrlich schrammeligen Indierock-Sound der Londoner einfallen würde. Aber sie spielen mit diesem Kontrast und kommen ganz leisure-chick mit Hemd und Chino-Hosen auf die Bühne, als ob sie gerade von einem Startup-Dinner in Mitte kämen. Dieser Eindruck hält nur, bis sie loslegen – mit wahrhaft dreckigen 15 Minuten.
Sänger Justin Young (36) und seine Jungs, bis auf zwei alle noch die Originalbesetzung aus den Gründungszeiten, wirken oder sind wahrscheinlich sogar jünger als das Publikum im Saal. Young hält es keine Sekunde in der Bühnenmitte auf "seinem" Platz aus, tigert von links nach rechts, reißt die Augen auf und die Arme hoch, läuft die Bühne mit großen Schritten immer wieder ab.
Im November 2018 – vor mehr als 5 Jahren - waren The Vaccines das letzte Mal in Berlin. Während die Hallen anderer alternder Indiebands der 2010er-Jahre in der Hauptstadt immer kleiner werden, haben sie hier dieses Mal so viele Tickets verkauft wie noch nie. Der Festsaal Kreuzberg ist ausverkauft.
13 Jahre ziehen The Vaccines ihr Ding schon durch, groß gemacht haben sie unter anderem die Manager von Franz Ferdinand. Sie haben es mit ihrem Sound im aktuellen Popgeschäft nicht leicht, der britische Indierock ist, wie Gitarrenmusik ingesamt, in keiner guten Verfassung. Aber The Vaccines, die immer eher eine Indie-Band der zweiten Reihe hinter 00er- und 10er-Jahre-Größen wie den Arctic Monkeys oder Maximo Park waren, haben vor wenigen Tagen ihr inzwischen sechstes Album "A Pick-Up Truck Full Of Pink Carnations" vorgelegt.
Sie widerstehen der Verlockung weichgespülter Pop-Synthies und sind musikalisch so rotzig wie lange nicht mehr. Im Festsaal Kreuzberg spielen The Vaccines nur wenige Songs der neuen Platte, es ist eher ein Ritt durch lauter gut gealterte Indierock-Bretter. Wer nach der ersten Hälfte Angst hat, dass da schon alle alten Klassiker verfeuert seien, irrt.
Wenn zwischen Songs Stille im Saal entsteht, kann das bei Konzerten schnell unangenehm werden. Nicht so bei The Vaccines: Da wird diese Stille durch schrill-kreischende Gitarreneinsätze gebrochen, das ist ein wahnsinnig starker Effekt. Nach etwas mehr als einer Stunde ist die Show schon durch, die Songs allesamt knackig kurz, die Band rauscht durch ihr Set.
Sänger Young ist baff, er hat nicht erwartet, dass Berlin so "insane" wird. Wer hätte das auch gedacht - denn das Publikum ist wie ein Wasserkocher. Es braucht erstmal eine ganze Weile, um warm zu werden. Doch auf einmal ist der Siedepunkt erreicht und die Menge im Festsaal kocht. Da tanzen dann 1.000 glücklich grölende Indieseelen, die auf einen Schlag wieder in ihren wilden 2010er-Jahren angekommen sind, als sie noch Skinny Jeans trugen und ihren ersten mp3-Player mit Songs der The Vaccines bestückten.
Sendung: rbb24 Inforadio, 23.01.2024, 6:55 Uhr
Beitrag von Bruno Dietel
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