Nachruf auf René Pollesch
Die Theaterwelt steht unter Schock: Völlig unerwartet ist der Intendant der Berliner Volksbühne, René Pollesch, im Alter von 61 Jahren gestorben. Pollesch war dem Haus über Jahrzehnte verbunden. Ein Nachruf von Barbara Behrendt.
Der Schock sitzt tief. Vor zwei Wochen erst hat René Polleschs neues Stück an der Volksbühne Uraufführung gefeiert, jetzt plötzlich die Todesnachricht. "Mit Entsetzen und in tiefer Trauer", so heißt es in der Presseaussendung des Theaters, gebe man seinen Tod bekannt.
René Pollesch schrieb nicht nur Stücke wie niemand sonst, er hatte auch ein Händchen für Aphorismen. Auf X, früher Twitter, postete er Zeilen wie "Ein Doppelleben ist das Gegenteil von Suizid" oder "Wer acht Mal in die Luft geworfen wird, muss neunmal wieder aufgefangen werden". Seine Theaterstücke tragen Titel wie "Schmeiß dein Ego weg" oder "je t’adorno". Und das letzte? Heißt ausgerechnet: “ja nichts ist ok".
Über 200 Stücke hat Pollesch geschrieben und inszeniert. Das "Und" ist wichtig: Pollesch stellte seine Dramen auf den Proben mit den Schauspielenden fertig und sah die Texte so eng mit diesen Personen verwoben, dass er sie nicht für andere Regisseur:innen freigab. Er liebte die Schauspieler:innen – und sie lieben ihn. Alle wollten sie mit ihm zusammenarbeiten, mit vielen entwickelten sich Freundschaften und enge Arbeitsbeziehungen: Milan Peschel, Sophie Rois, Franz Beil, Martin Wuttke, Fabian Hinrichs, Inga Busch.
Als er zum Intendanten der Volksbühne ernannt wurde, legte er großen Wert darauf, mit seinen "Brothers and Sisters in Crime", wie er sie nannte, anzutreten.
"Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich bin nicht alleine. Ich bin nie alleine. Ich war noch nie alleine und ich werde auch nie alleine sein. Darauf kann ich mich verlassen. Ich bin auch als Regisseur und Autor nie alleine. Wenn ich jemals alleine gewesen wäre, würde ich hier nicht sitzen."
Dass René Pollesch der revolutionärste postdramatische Autor und Regisseur des deutschsprachigen Theaters werden würde – es war ihm nicht in die Wiege gelegt. Aufgewachsen ist er in einem Dorf in Hessen. Der Vater Maschinenschlosser und Hausmeister, die Mutter Hausfrau. Während Altersgenossen eine Banklehre machten, studierte Pollesch am neuen Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen, die Kaderschmiede für Theorietheater.
Dann ist er arbeitslos. Fünf Jahre lang, mit Unterbrechungen. Pollesch sprach nicht gern über diese Zeit, verschwieg sie aber auch nicht. Nichts lag ihm ferner als seinen Lebenslauf zu pimpen. In dieser Zeit schrieb er die "Heidi Hoh-Trilogie", die ihm 1999 den Durchbruch bescherte: eine Analyse der Selbstausbeutung in der New Economy. Spätestens damit war das Pollesch-Theater geboren, das etwas Neues versuchte: das Weiterschreiben von Theorie, die die Schauspielenden zur "Sehhilfe für die Wirklichkeit" werden lassen. Das Ensemble fühlt sich nicht in Figuren ein. Es diskutiert komplexe Diskurs-Fragmente.
Angerer: Man muss das Leben wollen, aber in einer irgendwie gearteten Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, und auch gegenüber dem Sterben.
Rois: Ich will Musik! Ich will Liebe! Ich will Schönheit!
Mockridge: In ein paar Minuten gibt es Schnittchen!
Und zwar, das ist der Trick, in Komödiendialogen, in ironischem Hochgeschwindigkeitsgeschwurbel, gegengeschnitten mit Popkultur-Verweisen. Pollesch mochte in Inszenierungen keine Herrschaftsverhältnisse reproduzieren. Alle sagten nur, was sie sagen wollten. Hierarchien gingen ihm völlig ab. Hätte der Kunstkurator Chris Dercon, der 2017 als Volksbühnen-Intendant fehlbesetzt wurde, Pollesch gekannt, hätte er gewusst, dass es für ihn wie Hohn klingen musste, als Dercon ihn mit dem Versprechen anwarb: "Ich mach dich weltberühmt!"
Im deutschsprachigen Raum war Pollesch da ohnehin längst Kult. Er hat zweimal den renommierten Mülheimer Dramatikpreis gewonnen und war mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Als er 2021 allerdings selbst Intendant der Volksbühne wurde, verhalf das dem Haus nicht zum großen Erfolg. Das organisatorische Lenken eines solchen Tankers lag ihm weniger.
Pollesch war ein ungewöhnlich menschlicher, unverstellter, lebensnaher Künstler, der uns in seinen Texten immer auch an seinem Leiden am Leben teilhaben ließ. Er schrieb über die Liebe, aber auch übers Verlassenwerden und über unser aller Einsamkeit in dieser Welt. Sein letzter Text "ja nichts ist ok" ist eine düster grundierte WG-Geschichte über Krieg und Bekenntniszwänge, die mit einer Liebeserklärung endet:
Hinrichs: Der Mensch. Er ist gewalttätig. Aber ich liebe ihn auch sehr. Ich liebe den Menschen.
Und weiter heißt es: "Das Leben der Menschen ist grundsätzlich von dunklen Wolken überzogen, wie unter einer grauen, bösen Watte, aber manchmal, wenn der Himmel aufreißt, dann geht es dem Menschen gut. Wenn der Mensch alleine ist, wird er verrückt."
Der Mensch und Künstler René Pollesch ist tot. Ja nichts ist ok.
Sendung: rbbKultur, 27.02.2024, 8 Uhr
Beitrag von Barbara Behrendt
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