Die Installations- und Performancekünstlerin Naama Tsabar tritt in einen Dialog mit Arbeiten von Joseph Beuys. In ihrer Ausstellung "Estuaries" im Hamburger Bahnhof versucht sie, Grenzen zu überwinden. Von Marie Kaiser
Eine dicke und längliche Filzmatte liegt auf dem Boden der Kleihueshalle im Hamburger Bahnhof. Die graue Matte schwingt sich nach oben auf, ist gebogen wie eine Halfpipe zum Skaten. Gehalten nur von einer einzelnen Klavierseite, die diesen Bogen aufspannt. Ohne sie würde der Filz einfach nur schlapp auf dem Boden liegen. Was soll das sein? Eine Skulptur? Ein Instrument? Eine Anspielung auf den deutschen Aktionskünstler Joseph Beuys, für den Filz eines der wichtigsten Materialien war?
"Sound ist einfach eine andere Art, wie wir die Welt erleben können"
Die israelische Künstlerin Naama Tsabar würde alle drei Fragen mit Ja beantworten. Ihre Arbeiten sind interaktive Skulpturen, die jeder und jede anfassen, ausprobieren und zum Klingen bringen darf. Jede Arbeit ist an einen Verstärker angeschlossen. Wer an der Klaviersaite zupft oder über den Filz streicht, erfüllt den gesamten kathedralenartigen Ausstellungsraum mit Klang. "Du kannst dir vorstellen, wie ein Filz klingen würde, wenn du in meinem Raum bist", erklärt die Künstlerin. "Es ist physisch. Man kann auf dieser Skulptur die Note verändern, darauf komponieren. Es geht mir also wirklich darum, die Vorstellungskraft der Leute anzuregen, was mit den Filzarbeiten passieren kann."
Filz hat Naama Tsabar, die schon lange in New York lebt, ganz bewusst ausgewählt. Denn die Künstlerin zeigt ihre erste deutsche Einzelausstellung im Dialog mit den Arbeiten von Joseph Beuys. Die sind Teil der Sammlung des Hamburger Bahnhofs und werden in der frisch renovierten Kleihueshalle jetzt ganz neu und mit Tageslicht präsentiert.
Beuys "Straßenbahnhaltestelle", "Das Ende des 20. Jahrhunderts" oder "Das Kapital Raum" sind im linken Flügel der Kleihueshalle zu sehen. Im rechten Flügel versucht Tsabar die Grenzen von Skulptur, Musik, Performance und Architektur zu überwinden. "Sound ist einfach eine andere Art, wie wir die Welt erleben können", sagt Naama Tsabar. "Ich habe selbst einen musikalischen Hintergrund. Ich habe in Bands gespielt. Ich sage immer, dass Musik meine erste Liebe ist - und Kunst ist meine wahre Liebe."
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"Estuaries"
Ein Kunstwerk als öffentlicher Beichtstuhl
Mit ihrer Serie "Inversions" erobert Tsabar auch das Innere der Mauern des Ausstellungsraums. Die in die Wände eingelassenen Klang-Skulpturen sind Einstülpungen, profaner ausgedrückt: Löcher in den Wänden. Wer seine Hand oder gar den ganzen Arm hineinsteckt und bewegt, kann durch die Bewegung Klänge auslösen. Wer die Hand höher hält, bringt Zikaden zum Zirpen. Wer sie tiefer hält, lässt einen Chor schreiender Frauenstimmen erklingen.
"Man muss die Wand durchdringen, um den Klang zu hören", sagt Naama Tsabar. Manchmal sind in den "Inversions"-Skulpturen auch verborgene Saiten eingelassen, die gezupft werden können. Oder einfach einen Echoraum für die eigene Stimme bieten. "Die Löcher sind nicht groß genug, um den Körper hineinzustecken", erklärt Tsabar. "Sie haben ein verstecktes Mikrofon im Inneren. Man kann also hineinsprechen und wird im ganzen Raum gehört, aber dabei ist man im Grunde auf die Innenseite der Wand gerichtet. Es ist fast wie ein Beichtstuhl und ein Raum, in dem man sich in einem privaten Moment befindet, der aber gleichzeitig völlig performativ ist, weil er überall gehört wird. Und ich bin sehr an dieser Spannung interessiert, diese beiden Räume gleichzeitig zu besetzen", sagt sie.
"Ich interessiere mich dafür, was nach der Zerstörung passiert"
Im größten Raum liegen auf einem flachen weißen Podest mehrere kaputte E-Gitarren. Naama Tsabar hat sie neu gekauft und anschließend in ihrem Studio zerstört. Die zerbrochenen Stücke liegen hier genau in der zufälligen Anordnung, die sie nach der Zerstörung hatten. Bei zerstörten Gitarren denken viele wohl als erstes an große männliche Rockstargesten. Wollte sich die Künstlerin diese Macho-Geste in ihrem Kunstwerk mit dem Titel "Melodies of Certain Damage" aneignen? Tsabar lacht. "Es ist nicht sehr sexy. Ich ziehe eine Schutzbrille und Handschuhe an, um mich zu schützen. Ich interessiere mich nicht unbedingt für den Bruch, sondern eher für das, was nach der Zerstörung passiert", sagt sie.
Naama Tsabar kniet sich auf den Boden und führt vor, dass die Gitarrensaiten, die sie zwischen den Trümmern aufgespannt hat, noch funktionieren. Das auch die zerstörten Instrumente noch Musik hervorbringen können. "Diese Trümmer sind ein vielleicht ein Angebot, zu zeigen, wie es nach einem gewalttätigen Moment weitergehen kann. Ich denke, das ist vor allem eine geschlechtsspezifische Frage und etwas, worüber wir alle in diesen Tagen viel nachdenken müssen."
"Es ist nicht sehr sexy. Ich ziehe eine Schutzbrille und Handschuhe an": Die Künstlerin Naama Tsabar. | Quelle: Ebru Yildiz
Eine Ausstellung für Ohrenmenschen
"Estuaries" (Flussmündungen) ist eindeutig eine Ausstellung für Ohrenmenschen. Wenn viele Menschen zusammenkommen und sich auf Naama Tsabars Klangskulpturen einlassen, können die Besucherinnen und Besucher miteinander in Kontakt treten und gemeinsam ein experimentelles Musikstück zur Aufführung bringen. So entstehen manchmal kleine magische Momente der Interaktion, mit denen Naama Tsabar Beuys' Begriff der "Sozialen Skulptur " ganz neu zum Klingen bringt.